Der Wind pfeift um den Affenbrotbaum

Der Wind pfiff ihr um die Ohren, als sie wie ein tollwütiges Eichhörnchen über das Feld hastete. Lief ihr irgendwer nach, versuchte sie, zu fangen, auszurauben, verprügeln, vielleicht sogar verletzen oder töten? Ihr konnte das egal sein, solange sie nur rannte. Wenn sie rannte, war sie unbesiegbar, uneinholbar, unverwundbar, unsterblich. Endorphin pur.

Haken rechts, am Affenbrotbaum vorbei, der zufälligerweise beim alten Mann im Garten wuchs, über den Zaun gesprungen, mit dem Shirt dran hängen geblieben, egal, bloß weiter, Fetzen zurückgelassen, da würde die Mama sich wieder ärgern, einem Passanten ausgewichen, der auch gleich anfängt, zu schimpfen, Pirouette, bloß nicht aus dem Tritt kommen, wie ein Tanz, einen Ohrwurm gefangen, jetzt noch über den Bach hüpfen, die Enten erschrecken, lachen, lachen, Tränen, lachen.

Am Ende des Laufs steht immer die Wiese, der einzige Ort, an dem der Wind noch frei wehen kann, denn die Wiese ist nicht umzäunt, sie gehört keiner Person, und sie ist nicht im geringsten bebaut, nicht einmal Bäume stören. Dort ließ sie sich auch diesmal hinfallen, atmete ein, aus, ein, aus, spürte den Wind, aber diesmal nicht um die Ohren, sondern in ihr.

Irgenwann, war es nach einigen Minuten oder einigen Stunden, war sie eingeschlafen, die Mama würde ganz sauer sein, wenn sie wieder so spät heimkäme, irgendwann schaute sie nach oben. Nein, sie öffnete nicht die Augen, die zufällig zum Himmel zeigten – das hatte sie schon die ganze Zeit getan, sie mochte es nicht, die Augen zu schließen. Aber zum ersten Mal schaute sie bewusst in den Himmel, mit der Intention, etwas zu sehen. Und sagte “Alles Gute zum Geburtstag!”

Ein Beobachter hätte vom Tonfall er nicht erschließen können, wen sie damit meinte. Es klang nicht traurig oder vorwurfsvoll, als wäre sie die Einzige, die ihr selbst gratuliert hätte, es klang nicht sehnsüchtig, als meine sie jemanden, der nicht bei ihr sein konnte, nein, es klang einfach nur aufrichtig und zufrieden.

Langsam fing sie an, mit dem Körper zu schaukeln. Links, rechts, links, rechts, immer stärker, bis sie sich zum ersten Mal um die eigene Achse drehte, nicht an einem Hügel, wohlgemerkt, sondern auf einer flachen Wiese. Langsam, aber immer schneller werdend, rollte sie, Stück für Stück, über die Wiese. Am äußersten Rand angekommen, an Stelle, wo, wie mit einem Lineal gezogen, das Gras aufhörte, zu wachsen, und in Asphalt überging, an diesem Rand balancierte sie, versuchte, nicht über ihn hinwegzurollen, aber soviel von ihrem Körper so nahe wie irgend möglich an eine unsichtbare Wand zu drücken, die an dieser Kante stand.

Mangels Beobachter hatte sie keinen äußerst konzentrierten, ernsten Gesichtsausdruck, denn sie wusste, wenn etwas von niemandem wahrgenommen wird, geschieht es nicht, das war ihre moralische Maxime ebenso wie ihre Realität. Langsam drückte sich ihr Köper in die Nähe eines 90° Winkels, balancierte in diesem Zustand, fing an zu zittern. Gerade, als es schien, als müsste ihr Körper vor Anstrengung aufgeben, als würde sie umfallen wie eines dieser sorgfältig aufgebauten Kartenhäuser, die früher oder später nicht mehr weiter hinaus wachsen können, da sprang sie hoch, wo hatte sie diese Körperspannung her, und fing an zu lachen.

Ihr Lachen war kein verkündetes Lachen, wie es die meisten Menschen äußern, weil man auch Lachen von anderen Menschen als Kulturtechnik erlernt, jedenfalls zum Teil. Dieses Lachen war mehr ein krampfhaftes herauspressen des Windes, den sie vorher in sich aufgenommen hatte, ein ein und aus, ein Ringkampf um Kontrolle mit dem eigenen Atem, eine Kontrolle, die sie kurzfristig verloren hatte.

So plötzlich, wie sie angefangen hatte, hört sie auch wieder auf. Schaute an sich herunter, klopfte einige Grashalme herunter. Und machte sich langsam, zufrieden, leicht wiegend, auf nach Hause. Mama wartete.

 

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