“Alternativlose” Europolitik oder: deutsche Macht ohne Machtstreben

Angela Merkel wird ja momentan sehr gerne vorgeworfen, “alternativlose” Politik zu betreiben. Soll heißen, sie lässt keine großen Diskussionen zu, verwaltet die Krise und gestaltet nicht. Währenddessen schafft es die Opposition aber nicht, ihr eine wirkliche Alternative entgegenzusetzen. Was, wenn ihre Politik perfekt deutsche Interessen bedient?

Fangen wir mal etwas fundamentaler an. Was ist eigentlich deutsche Außenpolitik? Seit dem Ende des 2. Weltkriegs hat Deutschland, anders als etwa Frankreich oder Großbritannien, keine eigene “Interessenszone”. Das Verhältnis zu den ehemaligen Kolonien war kein besonderes, es fügte sich nahtlos ein in eine Reihe mit Dutzenden anderen Staaten, bei denen sich Deutschland entschuldigte, um sich zu rehabilitieren.

Natürlich wollte man nie zuviel zahlen an Entschädigungen, Sparsamkeit war schon immer eine Tugend deutscher Außenpolitik, aber es durfte auch nicht zu wenig sein, denn man wollte ja einen Neuanfang. Und finanziell war man ja auch an andere Front ausgelastet: Aus dem Wirtschaftsboom und dem (selbst-?)verordneten Pazifismus entstand zwangsläufig die Scheckbuchdiplomatie. Soll heißen, andere kümmern sich um unsere Interessen, wir bezahlen nur.

Deutschlands Interessensphäre ist traditionell Europa

Deutschlands primäres Interesse war also keine Region mit der einen die Geschichte (vor allem aber Ressourcen und Märkte) verbindet, sondern das andere Deutschland. Und deshalb war die Westbindung, waren EU und NATO so wichtige Eckpfeiler deutscher Außenpolitik. Als der Ostblock zusammenbrach, war Deutschland plötzlich nicht länger Pufferstaat, sondern Mittelpunkt des neuen Europas, zunächst geographisch, zunehmend aber auch wirtschaftlich und politisch.

Ostdeutschland als Symbol der Befreiung, Kontakte in die Ostblockstaaten, wirtschaftliche Verbindungen und schlicht und ergreifend geographische Nähe haben viel dazu beigetragen, dass Deutschland in Osteuropa aktiv werden konnte. Bloß nicht zu aggressiv – das Erbe nicht nur des 2. Weltkriegs, sondern auch Jahrhundertelanger aggressiver Expansionspolitik in Osteuropa waren ein schweres Erbe. Mit der EU gab es aber einen neutralen Bezugspunkt, der ungeheure Anziehungskraft ausübte auf Osteuropäische Staaten.

Über die EU vertieften sich die Beziehungen unter allen EU Staaten. Besonders davon betroffen? Deutschland. Wer Handel treiben will mit Osteuropa, muss durch Deutschland. Deutsche Firmen kauften marode Sowjetbetriebe auf, sie expandierten in den Osten. Deutschland hatte seine eigene Interessensphäre gefunden, aus der es Ressourcen (billige Arbeitskräfte, Rohstoffe) beziehen konnte und in der es wichtige Märkte zu erschließen gab.

Vom Stillstand profitiert nur Deutschland

Natürlich darf es dabei nicht aggressiv zugehen. Natürlich darf das Projekt Europa nie unter deutschem Vorzeichen, unter deutsche Hegemonie vorangetrieben werden – die osteuropäischen Staaten wären deutlich weniger begeistert gewesen. Mit der EU aber funktionierte alles wunderbar – bis dann die Krise kam.

Entgegen dem Populismus in deutschen Medien hat Deutschland keinen Cent bezahlt, sondern vor allem Bürgschaften für Kredite vergeben. Wenn also die Länder Zahlungsunfähig werden sollte, erst dann müsste Deutschland zahlen. Die einzige Handlung, die Deutsche etwas gekostet hat, war der Schuldenschnitt für Griechenland – und auch da waren vor allem Banken, nicht aber die Staatskasse betroffen.

Währenddessen investieren Anleger kräftig in Deutschland, einen der wenigen “stabilen” Staaten. Deutschland hat auch so jede Menge Kapital und jede Menge Investitionen – jetzt fließen weitere Milliarden hierher. Die meisten aber kaufen Staatsanleihen – was zu der ironischen Lage führt, dass wir negative Zinsen zahlen. Solange der Zinssatz für deutsche Staatsanleihen unter der Inflation liegt, macht der Staat Profit, wenn er sich verschuldet. Währenddessen musste Spanien, dessen Staatsverschuldung deutlich unter unserer lag, über 7% Zinsen zahlen.

Die Exportwirtschaft in anderen Staaten bricht zusammen, der produzierende Sekte schrumpft. Das heißt: weniger Konkurrenten für Deutschland, besser Ausgangslage für deutsche Exporte, jedenfalls, solange sich noch irgendwer deutsche Produkte leisten kann. Zum Glück aber ist die Lage bisher nicht so dramatisch, dass die deutsche Wirtschaft ernsthaft gefährdet wäre – also wird die Peripherie ausgetrocknet.

Der Konflikt Zentrum und Peripherie

Ich finde ja die Unterteilung in einen reichen Norden und einen armen Süden irreführend. De facto haben wir es mit einer Peripherie zu tun, die sämtliche Probleme einer solchen Lage hat: Es gibt außenpolitische Konkurrenten, unkontrollierte Immigration, weniger Anreize für Unternehmen, weniger Transitverkehr und (damit verbunden) besteuerungsmöglichkeiten bzw Anreize für Infrastrukturinvestitionen.

Das Zentrum dagegen ist gegen die meisten Probleme immun, da die Peripherie sich darum kümmert. Es kann Reichtum akkumulieren (und es hat schon genug davon, denn es hatte einen ordentlichen Vorsprung) – jede Unterstützung der Peripherie ist ein “Geschenk”. Die Abhängigkeit ist eindeutig, und mit der Krise hat sie sich deutlich verschärft.

Wie sonst könnte Deutschland sich so stark etwa in italienische oder griechische Innenpolitik einmischen? Demokratisch nicht im geringsten legitimierte Experten, die eindeutig vom Zentrum beeinflusst (wenn auch nicht gelenkt) sind – kein Wunder, dass da der Unmut wächst. Wenn das hier passieren würde, würden wir es kaum bei Demos mit Hitlerwitzen belassen.

Gefahren der Zukunft und Vorteile des status quo

Trotzdem gibt es hierzulande die Ansicht, dass Europa uns schadet. Dass etwa eine Rettung der Peripherie uns schaden würde, und dass wir lieber alle anderen fallen lassen sollten.

Moment mal: Es gibt einen freien Markt, auf dem deutsche Produkte deutlich überlegen sind (etablierte Betriebe haben es immer einfacher als neu entstehende, wie eben in der Peripherie). Die Staaten können sich weder mit einer eigenen Währung, noch mit Zöllen schützen. Was zahlen wir dafür? Während einer Krise bürgen wir für Kredite, und ansonsten zahlen wir in einen Topf, aus dem vor allem Bauern (auch hierzulande!) unterstützt werden. Eine Industrialisierung der Peripherie ist gar nicht vorgesehen.

Wir müssen kein Geld ausgeben um uns gegen Nachbarn zu schützen, nicht politisch, militärisch, auch nicht gegen Immigration. Um all das kümmert sich die Peripherie, weitestgehend von uns allein gelassen. Im momentanen Zustand fließt sogar jede Menge Geld in unsere Taschen – wäre es da zuviel verlangt, der Peripherie zu helfen?

Nur, wenn wir helfen würde, könnten eben auch unsere Vorteile verschwinden. Und das ist das Dilemma deutscher Außenpolitik. Sie kann nicht wirklich vorhersagen, was passieren wird, und momentan läuft es ja ganz gut. Warum also energisch vorgehen? Bei uns herrscht ja keine Arbeitslosigkeit von 25%, das sind die anderen. Und wenn das Kalkül aufgeht und man langsam, zaghaft aus der Krise heraussteuern kann, wäre das Maximum an deutschen Interessen erreicht worden.

Deshalb ist Merkels Politik auch nicht primär konservativ, sondern primär “deutsch”. Rot-Grün wäre nicht viel anders – vielleicht mit weniger Forderungen nach Reformen in anderen Staaten, aber zuviel Veränderung würden auch sie nicht fordern. Denn Deutschland geht es gut. Es sind alle anderen, die leiden.

Wenn wir uns verkalkulieren, ist alles möglich

Dabei übersieht die deutsche Öffentlichkeit, dass ein Zusammenbruch der Eurozone niemandem mehr schaden würde als Deutschland. Wenn die EZB eingreift, könnte es zu Inflation kommen? Ja, wie nennt man es denn, wenn Unsummen nach Deutschland fließen, weil es keine zuverlässigen Staaten mehr gibt? Je schlimmer die Lage wird, je mehr Geld nach Deutschland fließt, desto größer wird auch die Inflationsgefahr. Ein Eingriff der EZB wäre immerhin eine gesteuerte Inflation, die immerhin der Peripherie helfen würde.

Und sagen wir einmal, Europa zerbricht. Wir hätten Schutzzölle, die stärkste Währung in Europa (und damit deutlich teurere Exporte), einen Standortvorteil weniger (zentral in Europa) und würden unsere einzige Einflusssphäre verlieren. Alle anderen Länder hätten einen kurzen Schock, der drastisch wäre, langfristig aber nicht viel schlimmer wäre als wenn wir sie ausbluten lassen – Deutschland dagegen würde wirtschaftlich und politisch schwer getroffen. Und spätestens dann wäre eine massive Inflation nötig, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Ein politisch Verantwortlicher mit europäischen Gewissen, der ein worst case szenario verhindern möchte, würde sich also deutlich stärker für Europa engagieren und keine Kosten scheuen, um die Peripherie zu stabilisieren. Ein berechnender Politiker aber, der Kurz- und Mittelfristig deutsche (nationale) Interessen vertreten will, kann kaum anders als so wie Merkel zu handeln.

Im Status quo muss Deutschland keine bewusste Großmachtpolitik betreiben, Inaktivität ist da deutlich effektiver.

 

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4 thoughts on ““Alternativlose” Europolitik oder: deutsche Macht ohne Machtstreben”

  1. Guter Artikel. Einer der wenigen Kommentare zu dem Thema, die ich gelesen habe, die dem Ganzen mit einer gewissen Sachlichkeit entgegentreten. Ansonsten wird das ja zunehmend nationalistisch aufgeladen.

    Mir kommt dieser ganze Konflikt um die Eurokrise in der deutschen Öffentlichkeit schon länger vor wie ein Streit vor zwischen deutschen Imperialismus und deutschen Seperatismus. In den ersten Jahren der Eurozone hat dieses Land stark zu Ungunsten seiner Nachbarn finanziell profitiert und die Frage in den deutschen Parlamenten und Redaktionsstuben ist eher die, ob es jetzt ein Teil dieses Profits zur Rettung seiner alten Milchkühe einsetzen soll, damit es sie auch in Zukunft weiter ausbeuten kann oder ob es den ganzen Mehrwert für sich behält und sie ihren Schicksal überlässt. Trotz den ganzen deutsch- oder europanationalen Idealismus, mit dem das Ganze geschmückt wird, geht es im Grunde nur um die Verfolgung entweder kurz- oder langfristiger nationaler Interessen. Darum fällt es mir auch schwer, in dem Konflikt eine Seite einzunehmen.

    Ich würde aber deiner Aussage widersprechen, dass Deutschland keine Großmachtpolitik betreiben würde; da reiht sich Merkels Politik meiner Meinung nach zu nahtlos in die ihres Vorgängers ein (Balkan-Krieg, außenpolitische Rivalität mit der Ex-Supermacht USA, etc.).
    Aber sie betreibt eben keine offene oder direkte Großmachtpolitik. Das die außenpolitische Dominanzstellung Deutschlands bei der Sache nur ein Zufallsprodukt ist, mag ich aber nicht glauben.

     

Juhu! Jemand, der nicht bei facebook kommentiert! Oldschool!