Deutsche Nachbarn. Reisen durch Polen, Belgien, die Niederlande, Frankreich, Luxemburg und Dänemark #4: Innenräume

Psychopathologische Analytik von Inneneinrichtung ist ein vielbearbeiteter Forschungsgegenstand. Mich hat vor ein paar Jahren das Drama „Interiors“ von Woody Allen beeindruckt. Im Film geht es um die zentrale Figur der Familie, die Mutter, die auf ihre alten Tage mit traurigen Gedanken zu kämpfen hat und beruflich einrichtet.

Also: ihre Inneneinrichtungen sind natürlich eine Metapher für ihre „seelische Inneneinrichtung“. Sie mischt sich bei jedem Familienmitglied ungefragt ein. Die allzu vordergründige Metapher sind die Inneneinrichtungen der Zimmer, in denen sich die Charaktere bewegen und über die viel geredet wird. Ich habe gewisse Vorurteile gegenüber zu viel pastelligen Farbtöne in meinem Lebensumfeld. Die Gedanken- und Gefühlswelt der depressiven Mutter im Film projiziierte genau den Zusammenhang zwischen Gemüt und Gardinengestaltung auf die Leinwand. Wie oft haben Sie schon eine/n Passant/in beobachtet und sich überlegt, ob er/sie uns allen mit der Farb- und Formgebung seiner Kleidung etwas sagen möchte? Deshalb die Konvention des Kittels, Hiphopoutfits und Anzugs, die in Uniformität die Exorbitanz ersticken und keine Paradiesvögel gestattet. Wenn die Blingblingkette Norm ist, ist sie nicht mehr besonders, solange sie sich in den Kontext einfügt.

In einem Artikel über russische Plattensiedlungen habe ich ein paar Sätze über die Mehrfachsicherungen an Wohnungstüren gelesen. Keiner kümmere sich um die Treppenhäuser, aber die Türen seien gleich doppelt und solide gesichert, schön verziert und von innen gepolstert, damit kein Geräusch die Türseite wechseln kann.

In Polen gibt es diese Türen auch und ich nehme davon Abstand zu behaupten, die gemufften Türen seien eine einzig polnische Eigenheit. Ich weiß ja jetzt schon von den Türen der Russen. Voreiliges Typisieren ist nicht seriös, gerade im Geschäft der Reiseliteratur. Wir Schreiberlinge beschreiben und jede Kategorisierung darf sprachlogischer Präzision entbehren, sollte aber treffen. Worum geht es hier sonst beim Schreiben, als um die richtigen Worte, Kategorien und Zusammenhänge? Vielleicht vermuffen auch irgendwo Deutsche ihre Wohnhaustüren doppelt- und dreifach. In äußerlich tristen und unvorteilhaft gelegenen Mietskasernen in Polen sind schon Treppenhäuser voller holzgeschnitzter Kleinodien zu sehen. Nur Isolierung und Selbstschutz kann das nicht sein, da viele Türen eben auch nach außen mindestens aufwendig konstruiert waren, wenn nicht beeindruckend. Die Flure waren nicht geschmackvoll, die meisten sind sowjetischen Stils, zeigten sich aber sauber und gepflegt. Zur Gegenprobe muss ich noch nach Russland und am besten noch in viele andere Länder und überhaupt.

Innenräume können wir nur langsam umbauen und hier haben wir stets Altlasten zu beseitigen, nicht nur ganz praktisch den Asbest, sondern Holzverkleidungen oder Kachelungen, für die heute niemand mehr die Verantwortung übernehmen würde. Welche tiefe Symbolik hatte dieses 70er-Jahre-Bad in der westdeutschen Provinz, das sich mir jeden Tag in Uringelb und Kackbraun zeigte? War das eine Form des postmodernen Symbolismus? Das Bad ist jetzt renoviert, das Kulturdenkmal verloren.

Erst die geräumige Wohnung kann die räumliche Verdinglichung des Charakters demonstrieren. Ich kenne Komillitonen, die zwar schon auf neun Quadrametern den Geist Spartas wiederbeleben. Die meisten Studentenbuden haben jedoch schlicht zu viele Sachen für die paar Flecken zum Zustellen. Bürger der Niederlande und europäischer Metropolen haben in der Regel grundsätzlich nicht die besten Aussichten auf schnelle Wohnraumvergrößerung, da werden die Quadratmeter in Kubikmetern genutzt.

Was die Fenster und das natürliche Raumlicht angeht, machen die Niederlande und Deutschland entgegengesetzte Entwicklungen durch. Galt es als unschick, blickdichte Gardinen in den Niederlanden vor den Fenstern zu haben und das Wohnzimmer zu verstecken vor den Blicken der Passanten, kümmert man sich jetzt mehr um niederländische Privatsphäre und verhüllt sich. Gleichzeitig scheinen viele ambitioniertere Neubauten in Deutschland nicht genug Glas zu zeigen, am besten bis zum Boden und am besten ganz ohne Wand. Der Koitus ist das Glasesszimmer. Manchmal kann man das noch verhängen und schützen, manchmal nicht. Haben wir jetzt weniger zu verstecken als die Niederländer oder bedeutet das sowieso das Gegenteil? Wo sind die schweren deutschen Häkelgardinen?

Mein gesunder Tagesschlaf nach dem Nachtdienst ist fest. Ich habe keine Häkelgardinen, keine römische Jalousie aus dickem Stoff und keinen Rolladen, sondern orangengelbe, lange Gardinen, wie sie in den 70ern vor allem in Gemeinschaftswohneinrichtungen wie meiner gehangen wurden. Würde ich mir einen antrinken, könnte ich mir gut vorstellen, dass mein Zimmer brennt, sobald die Sonne scheint, der Orangefilter der Gardinen ist beeindruckend. Da der Zustand nach Nachtdienst physiologisch einem Schwipps enstpricht, gibt es manchmal komische Momente.

Eine Sache werde ich noch besichtigen müssen: Freunde erzählten mir schon von modernen Wohnungsbewohnern, die den feuchten Traum der digitalen Vernetzung realisiert haben und alle Geräte miteinander verbinden und dafür Kontrollschaltflächen haben. Alles kann man sich über den Fernsehbildschirm anschauen und mit Fernbedienungen bedienen. Ich kenne bisher nur die Vorstufe mit vier Fernbedienungen für einen Fernseher ohne viel mehr als DVD-Player und Soundsystem, aber ohne eine der vier Fernbedienungen läuft da gar nichts. Jetzt also eine. Ich zweifele stark und sehe sich selbst überschätzende Heimbastler konfigurieren, vernetzen und verbinden.

Das moderne digitale Zimmer hat keine Bücher mehr, die kann man ja auf dem Bildschirm lesen. Auch wenn ich nie wieder ein Buch lesen würde, hätte jedes Zimmer Bücher. Teure Designerzimmer zeichnen sich gern durch viele Solitäre aus, nicht zu viele in einem Raum. Solitäre wie Opern, Museen, Schwimmbäder und Denkmäler, nur als Möbel, die im Weg rumstehen, nicht reinpassen, viel zu groß sind, aber hey! Die Wohnung ist noch viel größer.

Die meisten Menschen, die studiert haben, lernen ihr Leben zeitweise auf 9 bis 13 qm zu organisieren. Erst mal nutzt man da jede der drei Dimensionen, die Deckenhöhe hat Extrawert, man zimmert sich die Möbel in die Winkel und Schrägen hinein. Man hat noch nicht so viel Verständnis für große Möbelsolitäre. Nur wenige begüterte Studenten haben dafür von Anfang an Platz. Ich träume nicht von einer Wohnung voller Denkmäler. Wahrscheinlich ist man dann eh nicht so oft Zuhause, wenn die Wohnung groß und fast leer ist.

 

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