Machtwechsel in Kabul = Demokratie?

Man kann, denke ich, die Bedeutung der Präsidentschaftswahl gestern in Afghanistan kaum überschätzen. Da finden – relativ – freie Wahlen in einem der unzugänglichsten, am wenigsten entwickelten Länder der Welt statt: Allein das ist eine Nachricht wert. Aber das Land ist zufällig eines der größten andauernden internationalen “Projekte”. Und eins ist schon jetzt klar: Ein korrupter, demokratisch fragwürdiger Herrscher gibt freiwillig die Macht ab.

Karsai hat nie besonders viel für seinen Job qualifiziert: Er hatte Kontakte, er war kein Islamist, und er hatte niemanden aktiv ermordet. Vor allem letzteres war schon immer ein starkes Alleinstellungsmerkmal. Im Laufe der Jahre wurde klar, wie korrupt Karsai ist. Er hat sich ein komplexes System interpersoneller Loyalitäten aufgebaut, um seine Herrschaft abzusichern. Das eben kein Merkmal staatlicher Herrschaft: In vorstaatlichen Gesellschaften sind persönliche Beziehungen ausschlaggebend für Herrschaft, in Gesellschaften mit einem funktionierenden Staat werden diese vor allem durch Institutionen ersetzt.

Institutionen vs Loyalitäten

Wenn wir also davon ausgehen, dass Karsai ein vorstaatliches System interpersoneller Netzwerke aufgebaut hat, dann wäre Afghanistan kein moderner Staat. Und vor allem wäre dieses staatsähnliche Gebilde stark von der Person Afghanistans abhängig, Karsai also unersetzbar. Nicht nur, weil niemand gegen seinen Willen an die Macht gelangen könnte, sondern weil dieser Protostaat ohne ihn zerfallen würde. Darum sind Herrscher in weniger entwickelten Ländern auch so schwer ersetzbar. Sie klammern sich normalerweise an ihre Machtpositionen.

Karsai hat jetzt etwas sehr ungewöhnliches getan: Er hat sich an die Verfassung gehalten und nicht erneut kandidiert. Mehr noch: Kein direkter Verwandter von ihm hat kandidiert, sein Bruder hat seine Kampagne aufgegeben und unterstützt stattdessen Salmay Rassul.

Vor den Wahlen war also schon klar, dass es einen Machtwechsel geben wird. Blieben noch drei Fragen offen: Wird Karsai zulassen, dass “sein” Kandidat verliert, wie erfolgreich werden die Taliban die Wahlen behindern können, und werden die Verlierer ihre Niederlage anerkennen?

In zweien dieser Fragen gibt es nun überraschende Antworten. Zunächst einmal blieb es erstaunlich friedlich im Vergleich zu den Wahlen 2009. Einige Quellen gehen von mehr toten Taliban als toten Zivilisten oder Sicherheitskräften aus. Und dann sieht es so aus, als würde Salmay Rassul es nicht einmal in die Stichwahl schaffen. Momentan führen wohl die beiden anderen Favoriten, Abdullah Abdullah und Aschraf Ghani Ahmadsai deutlich. Die Auszählung wird allerdings noch bis Ende April dauern, das kann sich also noch ändern.

Kontinuität trotz Wechsel

Damit ist noch klarer, dass es einen Machtwechsel geben wird. Abdullah Abdullah ist der Tadschike, der 2009 die Stichwahl gegen Karsai verlor, und er hat vor den Wahlen mehr oder weniger unverholen mit Gewalt gedroht, falls das Ergebnis seinen Anhängern nicht gefalle. Ebenso wie Aschraf Ghani Ahmadsai (und auch Salmay Rassul) gehört er zur alten Garde des jungen Staats.

Alle drei waren zu einem Zeitpunkt irgendwie in Karsais System involviert, beispielsweise als Minister. Mit ihrer weitestgehend westlichen Ausbildung und ihren Exiljahren gehören sie zur kleinen wirtschaftlichen und intellektuellen Elite, die mit dem Land während des Bürgerkriegs eigentlich weniger zu tun hatte und die von der Bevölkerung deshalb gerne misstrauisch betrachtet werden. Darum sind sie auch auf so zweifelhafte Verbündete wie Dostum, einen bekannten Warlord, angewiesen. Ein echter Wechsel sieht anders aus, Kontinuität ist angesagt.

Die Taliban wiederum sind blamiert. Ihre Ankündigungen, die Wahlen mit Gewalt zu behindern, haben sie weitestgehend nicht in die Tat umsetzen können. Die Wahlbeteiligung scheint auf einen neuen Rekord zuzusteuern (immerhin war endlich eine Alternative zu Karsai möglich). Man sollte sich aber nicht zu früh freuen: Es ist auch möglich, dass die Taliban und verbündete Milizen ihre Kräfte für nächstes Jahr schonen, wenn die ausländischen Streitkräfte abgezogen sind.

Und was sagt uns das jetzt?

Zunächst mal wird es interessant, zu sehen, ob es zu einer Stichwahl kommen wird. Der oben verlinkte taz-Artikel spekuliert ja auf eine Machtteilung der Kandidaten; das würde für eine große Akzeptanz des künftigen Präsidenten sorgen. Eine Stichwahl würde allerdings bedeuten, dass sich mittlerweile zwei relativ klare Lager abzeichnen: Das Abdullah Lager, das vor allem aus Minderheiten und dem Norden besteht, sowie das paschtunische Lager aus Kandahar plus lokale Machthaber wie Dostum und kleinere Fraktionen. Ein bipolares System könnte sich mit der Zeit entwickeln.

Falls Karsais Favorit wirklich aus dem Rennen sein sollte, besteht auch die Hoffnung, dass die Verlierer ihre Niederlage eher anerkennen werden und den ohnehin schwachen Staat nicht weiter schwächen durch Gewalt. Dann hätte Afghanistan die erste große Hürde jeder jungen Demokratie genommen: Den ersten, friedlichen Machtwechsel.

Inhaltlich dagegen dürfte sich wenig ändern. Karsai hatte ja ein Sicherheitsabkommen mit den USA bisher nicht unterzeichnet, mit der Begründung, darum müsse sich der künftige Präsident kümmern. Ein kluger Schachzug: Die Wahl wurde zur Schicksalswahl über das Abkommen, und Karsai zog sich selbst aus der Verantwortung. Allerdings haben Abdullah und Ahmadsai sich bisher kaum gegen das Abkommen gestellt, sie werden es wohl unterzeichnen. Auch sonst sind die Ziele sich extrem ähnlich: Frieden, effiziente Verwaltung, Korruptionsbekämpfung, Wirtschaftswachstum, sogar Frauenrechte haben sie regelmäßig erwähnt.

Ein einziges interessantes Projekt bleibt: Abdullah hat sich in der Vergangenheit für ein repräsentativeres System ausgesprochen, für eine parlamentarische Demokratie, das mich an Indien erinnert hat (und das ich für eine gute Idee halte). Sollte er an die Macht kommen oder sich selbige mit Ahmadsai teilen, dann könnte es zu einer solchen Reform kommen.

Letztendlich ist die wahre Nachricht nicht, wer die Wahl gewinnt. Wichtig wird vor allem, wie friedlich der Kandidat gewinnen wird.

 

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