Irredentismus ist keine Lösung

Die große Herausforderung internationaler Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert sind zerfallende Staaten und Bürgerkriege. Eine beliebte „Lösung“, die gerne diskutiert wird, sind neue Grenzen: Lasst doch jede Gruppe ihr eigenes Land haben, dann massakrieren sie sich doch bestimmt nicht. Leider ist diese Denkweise eher hinderlich als hilfreich.

Unter Irredentismus versteht man nationalistische Ideologien, die ein Land für ein Volk verlangen und dafür auch Sezessionen von multi-ethnischen Staaten fordern. Im Zuge der Dekolonisierung wurde schnell klar, dass die Kolonialstaaten willkürliche Grenzen gezogen hatten, die auf Ethnien und Lebensräume der Bevölkerung keine Rücksicht nahmen. Ein beliebter Diskurs geht also folgendermaßen: Das sorgt für Konflikte, lösen wir die Konflikte also durch neue Grenzen!

Ein weiterer Begriff, der ein ähnliches Modell beschreibt, ist „Balkanisierung“. Obwohl meist eher negativ besetzt, gibt es durchaus Denker, die den Zerfall Jugoslawiens für ein Beispiel dafür halten, dass multi-ethnische Staaten nicht funktionieren und deshalb entlang ethnischer Linien zerteilt werden sollten. Ob Afghanistan, Irak, Syrien, Mali oder Zentralafrika: Schnell wurden Forderungen laut, das Land doch bitte zu zerteilen, man sehe ja offensichtliche die Konfliktlinien. Doch so einfach ist das eben nicht.

Ethnisierung von Konflikten

In Texten ist oft von der „Ethnisierung“ der Konflikte die Rede. Dass kann prinzipiell zwei Dinge meinen. Zum einen sind ethnische Linien die „Sollbruchstellen“ der Gesellschaft; Jahrzehnte kann alles gut gehen, aber sobald das Morden beginnt, zerfällt die Gesellschaft schnell in ethnische Gruppen, so die Binsenweisheit. Auf den ersten Blick stimmt das auch, auf den zweiten wird aber meist klar, dass das nur eine grobe Beschreibung der Realität sein kann: Ethnizität reicht selten aus, um die Loyalitäten in Konflikten vollständig zu erklären.

Die andere Bedeutung des Begriffs ist da viel interessanter: Sobald ein Konflikt beginnt, mit komplizierten Motiven und Machtkonstellationen, beginnt die internationale Gemeinschaft, ihn entlang ethnischer Linien zu interpretieren. Demnach wären diese Konflikte also nicht ihrer Natur nach ethnisch, sondern vor allem in ihrer Interpretation.

Für die zweite Sichtweise spricht einiges. In Syrien etwa war es am Anfang eben nicht möglich, ethnische Linien zu benennen, aber die Medien haben das von Anfang an versucht. Alawiten würden eher hinter Assad stehen, hieß es da, so, als sei Assad ein Clanführer; dass er vor alle seine Familie in wichtige Ämter gehievt hat (und seine Familie besteht nunmal eher aus seiner eigenen Ethnie) könnte aber eine viel bessere Erklärung für die übermäßige Repräsentation dieser Gruppe im Staat. Die ethnische Deutung aber wird sehr schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Je mehr von ethnischen Konflikten die Rede ist, desto eher interpretieren auch die Akteure selbst den Konflikt als ethnisch. Die ethnische Perzeption wird zur ethnischen Natur.

Der neokolonialistische Blick wird deutlich, wenn man das mit der Ukraine vergleicht. Auch da haben wir einen Machtkampf. Auch da haben wir klar von einander abgrenzbare Regionen: Den eher russischsprachigen Osten, der die Regierung stützt, und den eher ukrainischsprachigen Westen, in dem es besonders viele Proteste gibt. Wäre das ein Land in Asien oder Afrika, würde man wohl von einem ethnischen Konflikt zwischen Russen und Ukrainern sprechen, weil es aber (fast) Europa ist, reden wir (richtigerweise!) nur von einem politischen Machtkampf (ich verkneife mir an dieser Stelle, noch was zum Thema Orientalismus zu schreiben).

Ohne Völkermord gibt es keine homogenen Staaten

Das wichtig, um zu begreifen, dass alle „ethnischen“ Erklärungen stark vereinfachend sind. Im Nordirak leben viele Kurden, aber es leben dort nicht ausschließlich Kurden. Und gerade die Grenzgebiete zwischen Autonomiezone und Restirak ist heftig umkämpft. Wer also den Nordirak abspalten möchte, der löst den Konflikt zwischen Kurden und Araber im Irak nicht auf.

Entweder, daraufhin werden alle Kurden aus dem Süden und alle Araber aus den Norden vertrieben; ein kleiner Völkermord findet schlimmstenfalls statt. Oder aber, der Konflikt setzt sich auf niedrigerer Ebene fort: Anstatt Zentralregierung und Regionalregierung kämpfen nun (kurdische) Regionalregierung und einzelne (arabische) Dörfer. Wie das aussieht, kann man sich im Kosovo anschauen: Die Serben im Norden sind plötzlich die Minderheit, und das gibt weiterhin Konflikte.

Homogene Landstriche wird man kaum finden. Man darf auch nicht vergessen: Die europäischen Nationalstaaten waren mit wenigen Ausnahmen nie homogen. Und für einen deutschen Nationalstaat ohne lästige Minderheiten wurden zwei Weltkriege geführt und einige Völkermorde verübt. Das also als Modell heranzuziehen (was man als Vertreter irredentistischer Lösungen macht) ist also wenig sinnvoll.

Wer von Ethnien spricht, hat in der Regel keine Ahnung

Das nächste Problem, das wir haben, ist die Definition von ethnischen Gruppen. Biologistische Erklärungen sind mittlerweile weitestgehend ausgestorben (gottseidank). Dafür haben wir eine Fülle von vagen soziologischen Definitionen als „Schicksalsgemeinschaften, die sich als Gruppe sehen und die als Gruppe wahrgenommen werden“. Grundlage kann so ziemlich alles sein. Bei den Hutu und Tutsi in Ruanda war der entscheidende Faktor, wer Land besessen hat, als die Kolonisten kamen, und wer nicht. Religion, Hautfarbe, Arbeitsteilung – alles kommt in Frage, um Ethnien zu definieren.

Das heißt aber auch, dass die Definitionen eben nicht so klar sind, wie es westliche Kommentatoren gerne hätten. Was hätte eigentlich ein schiitischer Kurde im Irak gemacht, falls das Land wirklich in drei Teile (sunnitisch, schiitisch, kurdisch) geteilt worden wäre? Was ist mit jemandem, dessen Eltern zu zwei oder mehr „Ethnien“ gehören? Ist der Paschtune in Kabul wirklich vergleichbar mit den Paschtunen aus dem Hinterland?

Viele Länder haben Dutzende von kleine ethnischen Gruppen, die grob zusammengefasst werden. Wie die Allianzen im Konfliktfall verlaufen werden, ist im Vorfeld eben NICHT klar. Die ethnische Erklärung ist also vor allem im Nachhinein sinnvoll (Captain Hindsight to the rescue!), sie kann aber schlecht Konfliktlinien vorhersagen.

Auch hier beeinflusst der Beobachter die Beobachteten. Ethnien „bilden“ sich zum Teil erst in solchen Konflikten durch ihr Gemeinschaftsgefühl. Wenn in Zentralafrika jetzt alle Gruppen, die irgendwie muslimisch wirken, abgeschlachtet werden, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass ihre „muslimische“ Identität wichtiger werden wird als ihre vorherigen (Clan- oder Sprachidentitäten). Und wenn diese Gruppen von außen als homogen anerkannt werden, wie die “Christen” im Libanon, dann bildet sich auch eine relativ homogene Gruppe mit einer starken Gruppenidentität.

Wie Praktikabel wäre eine Unabhängigkeit?

Jetzt nehmen wir einmal an, wir haben ein Land, in dem seit Jahrzehnten Bürgerkrieg tobt. So lange, dass sich zwei Gruppen herausbilden, die sich gegenseitig verabscheuen und die einige halbwegs stabile Identität entwickelt haben. Und eine der beiden Gruppen möchte jetzt die Unabhängigkeit. Das beste Beispiel dafür dürften die Palästinenser sein: Aus den „Arabern“ und aus den „Muslimen“ (sowie „Christen“) wurden mit der Zeit Palästinenser, die ihren eigenen Staat wollten.

Kann dieser Staat überhaupt überleben?

Bleiben wir mal bei dem Beispiel: Der Gazastreifen ist winzig, mit einer großen Bevölkerung und wenig Landmasse. Kann man da überhaupt etwas anbauen? Immerhin hätte Gaza ohne die Blockade eine Seeanbindung. Die Westbank dagegen ist zerstückelt durch die Besatzung und Siedlungen. Die Wasserquellen reichen kaum aus, für jeden Aspekt der Wirtschaft und des Handelns wäre ein unabhängiger palästinensischer Staat auf Israel angewiesen. Und wir gehen jetzt von einer friedlichen, von beiden Seiten vollkommen gewollten Unabhängigkeit aus, nicht von einem Fall wie Gaza, wo Israel bewusst mit einer Blockade die Selbstständigkeit des Staates untergräbt.

Warum also einen Staat errichten, der weiterhin auf das Wohlwollen des Zentralstaates angewiesen ist, von dem er sich losgesagt hat? Damit man ein paar bunte Fahnen aufhängen kann? Im Nahostkonflikt ist die internationale Gemeinschaft bereit, die Palästinenser zu subventionieren. Ein Hazara-Binnenstaat in Afghanistan könnte nicht auf soviel Wohlwollen hoffen.

Was kann man also tun?

Ethnische Konflikte sind nicht immer so ethnisch, wie wir gerne glauben. Meist gibt es bessere Erklärungen: Ressourcenkämpfe, Militarisierung, korrupte Regierungen, politische Machtkämpfe. Ein Universalrezept wird es nie geben, man muss im Einzelfall schauen. Gibt es regionale Machtstrukturen, die für Frieden sorgen können (siehe: Somaliland, Somalia)? Ist die Zentralregierung handlungsfähig? Dann kann man eine Regionalisierung der Politik oder „nation-building“, so gut es geht, betreiben.

Wer also solche Konflikte beenden will, der lässt sich nicht von der ethnischen Schablone blenden, sondern kümmert sich ganz konkret um politische (und militärische, wirtschaftliche) Lösungen. Letztlich gilt aber: Problemlösungen müssen von innen kommen und können kaum von außen aufgezwungen werden. Egal was die Rambos und Nationalisten hierzulande gerne behaupten.

 

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One thought on “Irredentismus ist keine Lösung”

Juhu! Jemand, der nicht bei facebook kommentiert! Oldschool!