Die Europawahlen stehen vor der Tür, aber irgendwie interessiert das keinen. Europa ist vielleicht ein politisches Thema, europäische Politik aber lässt die meisten Menschen ziemlich kalt. Und das, obwohl ein Großteil der Entscheidungen heutzutage auf europäischer Ebene getroffen werden. Warum diskutieren wir da so selten europäische Politik?
Zunächst einmal sollten wir eine Unterscheidung treffen. Was die meisten Menschen unter Politik verstehen, ist keine. Wenn jemand “gegen Harz IV” ist, wissen wir sofort, was er meint, obwohl er da eigentlich gar nichts gesagt hat. Harz IV gibt es nämlich nicht, man kann also auch nicht dagegen sein. Es gab mal ein Gesetzespaket, das so hieß, da könnte man gegen sein, aber das ist jetzt schon eine Weile her, und heutzutage meint man nur einen Teil davon: Die Reformen des ALG 2.
Wenn jemand also “gegen Harz IV” ist, dann ist er “gegen das ALG 2”. Gut, das hilft uns aber immer noch nicht weiter; in der Praxis kann das heißen, dass die Person sich für einen erhöhten Regelsatz, eine gesetzlich verankerte Inflationsangleichung des Satzes, eine neue Berechnungsweise des Regelsatzes, oder weniger Sanktionen ausspricht. Nur um einige der konkreten Maßnahmen, also Politiken, zu nennen, die gemeint sein können.
Vereinfachung als Grundelement des Politikbetriebs
Das einzelne Gesetz interessiert uns in der Regel nicht. Es geht uns um die “großen” Ideen: Für oder gegen Harz IV, Atomkraft, doppelte Staatsbürgerschaft, Homo-Ehe. Details, wie eine Regelung, wonach Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft, die hier geboren wurden, ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlieren können, wenn sie nicht rechtzeitig vor dem 21. Geburtstag die andere aufgeben, es sei denn, sie stammen aus einem Land das…
Ach, hierher vorgesprungen? Genau das meinte ich. Details interessieren uns nicht. Sie müssen uns in der Regel auch nicht interessieren: Die gesetzliche Ausarbeitung übernehmen oft ja nicht mal die Politiker, sondern Bürokraten und Juristen, die sich in dem Feld auskennen. Das ist ein Nebeneffekt einer verrechtlichten (wunderschönes Wort!) Gesellschaft.
Politiker müssen also einerseits mit diesen konkreten Gesetzestexten arbeiten, über die sie abstimmen (und die sie idealerweise auch verstehen), gleichzeitig aber zahllose Einzelgesetze und -Entwürfe zu einem konkretem Begriff verdichten, zu einer Politik, die sie dann verteidigen oder kritisieren. Das ist übrigens auch eine mögliche Erklärung für teils sehr skurrile politische Diskussionen, die eigentlich keinen Sinn machen: Irgendwann wird das ganze so abstrakt, dass Diskurs erschwert wird.
Politiker müssen schizophren sein: Komplexität verstehen und einfach kommunizieren
Auf nationaler Ebene gibt es nun Diskurse, die das vereinfachen. Wenn beispielsweise das Betreuungsgeld eingeführt wird, diskutieren wir eben nicht, wie sich das auf die Behörden auswirken wird. Es ist klar, dass hier “um die Familie” oder aber um ein “reaktionäres” Weltbild geht. Wir verorten das sofort innerhalb eines andauernden Diskurses, der sich nur wenig ändert. Eine schönes Geistesübung ist es, vermeintlich linke Politiken argumentativ für konservativ zu erklären und andersrum.
Bei umstrittenen Politikfeldern findet da dann ein Kampf darum statt, die Begriffe zu besetzen. Ist die Familie eine kleine gesellschaftliche Einheit, die sich dem Zugriff des Marktes entzieht und dadurch antikapitalistisch ist? Oder ist die Familie die Kernidee des Konservativismus? Das ist im übrigen beides Schwachsinn (weder Marx noch Burke halten die Familie für allzu zentral), aber beides ist durchaus so gedacht worden: Im Zuge eines diskursiven Kampfes, die Familie im eigenen Sinne zu deuten und den Begriff zu besetzen.
Diese anhaltenden Diskurse gibt es so in Europa nicht. Links-Rechts-Schemata sind in jedem Land unterschiedlich. In Westeuropa dominiert ein Gegensatz aus Konservativen und Sozialdemokraten/Sozialisten, wozu dann irgendwann noch Liberale, Grüne und Kommunisten/Linke stoßen. Anderswo kann aber der Stadt-Land-Konflikt bedeutender sein; sowohl in Skandinavien als auch in Osteuropa gibt es bedeutende Bauernparteien. Auch die schweizerische SVP hat als Partei der Landbevölkerung angefangen, die vor allem deren Interessen vertreten hat.
Europa ist kompliziert, und es gibt noch keine einfachen Erklärungen
Darum ist es auch immer so schwierig, Fraktionen zu bilden im Europaparlament. Zu den “starken” Fraktionen (stark vor allem, weil Frankreich, Deutschland, Italien und England als westeuropäische Staaten mit relativ ähnlichen Parteiensystemen sehr viele Einwohner haben) kommen bald eine rechtspopulistische Fraktion und zahllose kleinere Parteien, die bisher nirgendwo so richtig reinpassen.
Dazu kommen die schwierigen Gesetze, mit denen sich Europa auseinandersetzt. Schon das System an sich ist schwer verständlich (und noch schwerer erklärbar) – wer da welche Befugnisse hat, ist nicht nur kompliziert, sondern verschiebt sich auch noch. Immerhin ist die “Verfassung” nicht besonders alt: Das jetzige Parlament ist das erste, dass seine Befugnisse nach dem Vertrag von Lissabon austesten konnte und bisher auch brav Grenzen ausgelotet hat.
Und diese komische Organisation kümmert sich nun um alle möglichen Bereiche, mit schwierigen Gesetzen, die zum Teil gar keine Gesetze sind, sondern erst von den Nationalstaaten in Gesetze umgewandelt werden müssen, allerdings innerhalb eines bestimmten Spektrums, über das zu entscheiden…
Na, wieder nen Absatz übersprungen? Macht nix, ich auch.
Zusammengefasst haben wir also extremst schwierige Politiken, die schwer vermittelbar sind und sich teilweise mit Themen auf der anderen Seite des “Kontinents” befassen. Und auf der anderen Seite stehen Politiker, die ideologisch kaum verbunden sind und denen es schwer fällt, diese Politiken in eine vorgefertigte diskursive Schablone zu pressen, die sie Menschen verkaufen können.
Man kann es auch anders sagen: Damit die Menschen sich für europäische Politik interessieren, damit also Demokratie in Europa funktioniert, braucht es bessere europäische Ideologien und Diskurse. Die fehlen aber bislang, und die Parteien scheitern daran, sie zu entwickeln.
Das ist ja alles irgendwie richtig, was du schreibst, verfehlt aber meiner Meinung nach den entscheidenden Punkt.
Der Hauptgrund, dass so wenig Leute an der Europawahl teilnehmen, liegt doch nicht an ihren Desinteresse oder weil sie die komplizierten Verhältnisse der europäischen Politik überfordern, sondern weil sie wissen, dass ihre Meinung in der real existierenden EU einfach nicht viel zählt.
Weil sie wissen, dass das europäische Parlament eine machtlose Institution ist, deren Kompetenzen sich darauf beschränken, das abzunicken, was ihr die nationalen Staatschefs vorgeben.
Weil sie wissen, dass die EU im heutigen Zustand eine Regierung der Regierungen von Regierungen und für Regierungen, die auf die Meinung von europäischen Wählern und von denen gewählten Parlamentariern nicht viel gibt.
Natürlich wäre zu wünschen, dass sich das irgendwann ändert. Aber zu erwarten, dass sich das EU-Parlament wie Münchhausen selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf der Machtlosigkeit ziehen kann, nur weil genug Leute an es glauben und sich für EU-Politik interessieren, halte ich für etwas naiv.
Nuja, mir geht es ja nicht nur um Europawahlen, sondern um euopaweite Petitionen, europaweite Streiks (versucht, meist jämmerlich gescheitert), europaweite Demonstrationen (ACTA, aber da musste es auch in Polen groß werden, um überzuschwappen) usw usf.
Theoretisch werden Menschen ja auch schonmal aktiv, weil sie ihre Themen nicht einbringen können. In Europa scheint das aber kaum jemanden zu interessieren. Ohne Interesse aber eben keine Demokratisierung.
Anders gesagt: Europäische Diskurse wären die Mindestanforderung für Demokratisierung, reichen aber allein natürlich nicht aus.
Da stimme ich dir zu.
Ich meine aber, dass dieses Desinteresse nicht von ungefähr kommt.
Der authoritäre Stil, in dem europäische Politik von den EU-Staatschefs betrieben und den meisten Medien inszeniert wird, entmutigt viele Leute, europäische Basispolitik überhaupt für möglich zu halten.
Ist denn nationale Politik weniger autoritär?
Ist denn die Politik der EU nicht national?