Deutsche Nachbarn #2: Der Charme des Defizits

Deutsche Nachbarn. Reisen durch Polen, Belgien, die Niederlande, Frankreich, Luxemburg und Dänemark #2: Der Charme des Defekts

Defizite werden unterschiedlich diskursiv bewältigt. Man kann aus ihnen lernen, sie charmant verwalten, in neue Taten einbeziehen oder zwanghaft korrigieren.

Deutsche sind hier voller Vorurteile. Der imaginäre Süden besteht in ihrer Fantasiewelt aus lose hängenden Kabeln, sinnlosen Bauprojekten, brüchigen und fleckigen Fassaden. Dabei habe ich in den Niederlanden mal in einer WG gewohnt, die Teil eines konservativ ausgerichteten Verbindungsnetzwerks war und genau dieser Beschreibung entsprach. Deutsche haben für die gleichen Zustände in unserem Land nur Verachtung übrig. Der Kratzer am deutschen Auto ist ein nicht tragbarer Zustand und zerstört das Selbstbild nachhaltig. Damit kann man nicht mehr so wirklich fahren. Angst vor Schludrigkeit und Schlampigkeit lassen uns keine freie Sekunde. Auch Alternative und Aussteiger sind hierzulande recht keimfrei und brav.

Doch: Es scheint uns schwer zu fallen, wirklich schöne Dinge zu bauen, sie sind vor allem funktional und haltbar und effizient. „Design“ und „Formschönheit“ haben einen irrealen Beigeschmack, als ob eine kleine Lüge mit in der Definition eingeschlossen wurde.

Im Moment entdeckt das bundesdeutsche Gedenken den Charme versiffter Nachkriegsbauten. Wenn man sie richtig pflegt und betrachtet, haben sie eine eigene Ausstrahlung. Dieser Gedanke an der Erhaltung grauen Wasch- und Stahlbetons und zärtlicher Glasbausteintreppenhäuser durchzieht die Feuilletons. Ich muss noch darüber nachdenken, ob ich dem was abgewinnen kann und gehe bei Fahrten durch Köln, durch das Ruhrgebiet, solchen Betrachtungen nach. Industriebrücken des Ruhrgebiets haben Ausstrahlung und Charme, aber sie erinnern an Industialiserungszeiten aus dem vorletzten Jahrhundert und Bilder von Manhattan, die nun auch dreißig Jahre alt sind. Darin artikuliert sich ein Begriff der Moderne, wie ihn Großstadtromantiker in Allens‘ „Manhattan“ finden können, nicht nur Verehrer des Bauhaus, sondern die Leser und Anhänger von Bukowski, Regener, Helge Schneider, von Großstadtblues, Gossenliteratur, „Sin City“- und „L.A.-Confidential“-Ästhetik nach James Ellroy und dem Jazz, wie er früher einmal war.

Wohlhabende und moderne deutsche Städte strahlen eine kleinbürgliche Provinzialität aus. Es fehlt nicht der große, atemberaubende architektonische Solitär, aber der klassische Stadtcharme, falls es so etwas gibt. Den spürt man in den konservierten französischen Stadteilen, nicht aber in den schreiend hässlichen französischen Neubausiedlungen. Stadtbilder moderner Städte haben eine andere Anziehung und sind unmöglich hauptsächlich in den von Markengeschäften dominierten Einkaufsstraßen zu suchen. Die Stilvielfalt und darin wiederum strukturelle Harmonie der Kölner Architektur repräsentiert einen Charme, der gerade auch Patina ansetzt und nicht mehr so steril wirkt, als die meisten Bauten noch recht jung waren. Die Reifung eines Gebäudes zeigt seine Liebenswürdigkeit, entweder sie haben die Ausstrahlung eines verrotteten „Resident-Evil“-Zombie-Hauses oder diese italienische oder griechische Patina alter Steine, die man seit Herodots Tod nicht mehr bewegt hat. Wir beobachten vielleicht in den nächsten Jahren eine Patinisierung moderner Architektur, nach der sich der Volksmund wie der Feuilleton sehnen.

Polen assoziieren wir städtebaulich mit sozialistischer Defizitwirtschaft und reiner Zweckarchitektur, die sich fast eins zu eins in ostdeutschen Bezirken mit der gleichen Ästhetik und Qualität wiederfindet. In Osteuropa kann man den Überwindungs- und Modernisierungsprozess dieses sowjetischen Erbes bestaunen. Hochklassige Hotels nesten sich in Plattenbauten in Lodz wie in Dresden ein, Straßenzüge werden neu gestaltet, historische Bezüge wieder hergestellt. Jetzt, wenn sich die osteuropäischen Städte bis hin zur Provinz wieder renovieren und Bürgerhäuser ausbauen und neu tünchen, Bauernhäuser stabilisieren und die Balken auswechseln, schlesische Burgen aus dem Mittelalter rekonstruieren und Markplätze neu pflastern, nullen sich langsam mangelwirtschaftlich bedingte Unterschiede heraus. Nicht jeder will das anerkennen. Ein Bekannter meinte jedoch einmal einsichtig, dass Wuppertal nicht besser aussehe als bestimmte unschöne Außenbezirke von Kattowice.  Kleine Ortschaften in der polnischen Provinz entdecken das alleinstehende Einfamilienhaus. Dort hat sich eine Umzäunung mit künstlerisch zaunartig geformten Betonplatten etabliert, ein neuer Cousin des deutschen Jägerzauns.

Warschau, Posen und Breslau werden moderne, schicke Metropolen. Die Pariser Vorstadt ist bei weitem hässlicher und Warschau erspart uns noch das Disneyland, das wir im Zentrum von Paris, Amsterdam und London besichtigen können. Gleichzeitig hat Berlin dieses Jahr seit langem einen augeglichenen Haushalt.

Die polierten, konzipierten, stadterschließungsplangeordneten Orte Europas können bedrohlich wirken. Das Auge dankt deshalb wahnsinnigen Typen, die einen unangepassten, polyedrischen Klotz der Hässlichkeit oder Häuschen der mauscheligen Gemütlichkeit in solche Reißbrettensembles hineinsetzen. Der Bruch in der Fassade lässt sich besser auhalten als die monotone Oberfläche, die ewige Retorte.

Ein Zeitungsartikel verkündete kürzlich die Wiederentdeckung der Ausgewogenheit von Plattenbauwohnungen. Das Umfeld dieser schlimmsten Bereiche sozialistischen Möchtegernfuturismus darf dabei nicht vernachlässigt werden. In Polen haben sich in den sozialistischen Häuschen und Kellern kleine Geschäfte verstäkt. Es braucht Grün, Spielplätze, Bäume zwischen den Gebäuden. Eine matschige Ebene verstärkt nicht den Charme der durch Smog angegrauten Plattenbaufassaden. Möglicherweise ließen sich die Dinger noch bunter anmalen, mit noch schöneren Motiven, als jetzt schon geschehen. Die Außenflächen sind ja groß genug. Die total maroden Exemplare kann man möglicherweise einreißen, damit man ein wenig mehr Sicht bekommt oder zwischen die Monolithen ein paar kleinere Häuser oder Ensembles setzen kann. Solange da überhaupt jemand wohnen möchte. In unbeliebten Gegenden fehlt leider oft die Motivation die zerfallenden Gebäude abzubauen. Man kann die einfallenden Altbauten als romantischen Impuls wahrnehmen, man kann auch die Hoffnungslosigkeit der zurückbliebenden Anwohner wahrnehmen. Ob nun die Platte bröselt oder Familienhäuser in der Lausitz, aussichtslose Tristesse geht ins Mark.

In einem sind sich alle Länder Mitteleuropas gleich, vielleicht auch auf anderen Kontinenten: Die Bahnklos strahlen eine umwerfende, ihnen eigene Ekelhaftigkeit aus. In Polen wie in Deutschland, den Niederlanden oder Frankreich kann es sein, dass eine zwei Zentimeterhohe, größtenteils wasserartige Suppe den Boden überzieht, hier und da gefüllte Papiertücher rumfliegen. Dass das Klo defekt ist. Die seltsamen Reinigungschemikalien der lauten Ansaug- und Wegspültechnik unter der Klokabine verbreiten einen süßlich-urinartigen Geruch mit ein wenig Seife und Spritzern von Scheiße, die irgendwo unsichtbar verborgen auf den rosa-grau-minzgrünen Plastikarmaturen kleben könnten. Das Wasser ist laut Hinweisen nicht trinkbar und scheint gleichzeitig für die Hände nicht gefährlich zu sein, eine mich jedes Mal irritierende Situation. Doch scheint es fast immer Papier zu geben, obwohl das Kabuff sehr benutzt aussieht. Wahrscheinlich züchten die meisten Passagiere lieber ihre LKW-Fahrer-Blasen, leistungsstarke Panzerblasen mit dicken Muskelschichten, und die Blutung ihrer verkrampften Hämorrhoiden, anstatt sich diesen Toiletten auszusetzen. Ich gedenke den Menschen, die diese Toiletten sauberhalten müssen.

 

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