Ein paar Sekunden nach 18:00 Uhr ist die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten. Freilich, die konstituierende Sitzung des 18. Deutschen Bundestages steht noch an, formal gehören dem Bundestag also noch stolze 93 FDP-Abgeordnete an. Gedanklich aber ist die FDP entsorgt.
Vier Jahre nach Mövenpick und Steuererleichterungen für Hotelbetreiber. Vier Jahre nach dem Klassenkampf von rechts oben gegen spätrömische Dekadenz. Vier Jahre nach “Wildsau vs. Gurkentruppe”. Vier Jahre auch nach einem medialen Einschießen auf die FDP, das – man mochte es noch so genüsslich betrachten – die Grenze zum Parteienmobbing doch zeitweise überschritt wie später nur bei Steinbrück. Vier Jahre nach einem überflüssigen Zwischenspiel von Schwarz-Gelb – so muss es selbst ein Überzeugungsliberaler sehen – ist die FDP nicht mehr im Bundestag.
Die Radikalität dieser neuen Wirklichkeit lässt sich an der fast orgastischen Qualität ablesen, die ein solches Szenario für Linksprogressive im letzten Jahrzehnt hatte. Rhetorisch sah man dem Bundesausscheiden der FDP oft freudig entgegen, zumal diese Phantasie ja zuletzt am Leben erhalten wurde durch das tatsächliche Ausscheiden der FDP aus einer Reihe von Länderparlamenten.
Aber wer hätte denn tatsächlich daran geglaubt? Dass die FDP vor einer Woche in Bayern ausschied mag Indiz für Vieles gewesen sein, für den jetzt eingetretenen Schlimmstfall allerdings nie, da Landtagspräsenz der FDP hier immer eine historische und politische Abnormalität war. Alles mittige und rechte Potential ist in der CSU aufgegangen, die FDP darum lediglich Stimmenparkplatz bei allergrößter Verärgerung mit der CSU. Bayern war also eine zeitliche, nicht aber eine politische Koinzidenz.
Selbst bei größter Missgunst musste man Anerkennen, dass die FDP starke Landesverbände hatte – strukturell etwa Baden-Württemberg und NRW, und Kubicki-gebunden auch regelmäßig Schleswig-Holstein – die zumindest 5,1% als Untergrenze immer garantierten würden. So dachte man.
Allein, dem war nicht so. Die FDP wird dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören. Der ehedem feuchte Traum ist wahr geworden. Und doch, Freude war wenig zu spüren. Ritualisiert wurde zwar zu Beginn des Abends bei jeder linken Partei brav geklatscht, wann immer Hochrechnungen und Prognosen die FDP ein ums andere Mal in die APO verbannten. Bei nicht Wenigen aber verblasste die Erfüllung dieses Traums schnell hinter dem sich zu diesem Zeitpunkt abzeichnenden Albtraum: einer absoluten Mehrheit der Union.
Ein Bundestag im Jahre 2013, mit einem immer fragmentierterem Parteiensystem, soll tatsächlich eine absolute Mehrheit produziert haben? Das Bittere an dieser Aussicht war, dass sie so völlig glaubhaft war, so völlig vorstellbar. Aus linker Sicht ist Deutschland zwar in seiner abstrakten Verfasstheit ein Land mit still-aber-latentem Links-der-Mitte-Konsens. Weite Mehrheiten pro Mindestlohn, kontra Militarismus. Pro Kündigungsschutz, kontra Zeit- und Leiharbeit. Pro Sozialstaat, kontra Neoliberalismus.
Aber Deutschland ist gleichzeitig das Land der vierzehn Jahre Konrad Adenauers, das Land der sechzehn Jahre Helmut Kohls. Das Land in dem konservative Kanzler Automatismen sind, abgelöst durch sozialdemokratische Kanzler immer nur kurz und auch immer nur durch besondere historisch-politische Berufenheiten. Ironischerweise also letztlich ein Land des strukturellen Minderwertigkeitskomplexes für jeden politisch organisierten Linken.
So schockierend, ja, so der Überraschung wegen blank entsetzend also die Aussicht auf eine absolute CDU/CSU-Mehrheit gewesen sein mag, war es doch angesichts der Konstanten des deutschen Wahlverhaltens in letzter Konsequenz doch erniedrigend nachvollziehbar.
Allein, es hat dann doch nicht gereicht. Und man musste tatsächlich fragen: leider? Mit jeder Sekunde, mit der man sich mit einer womöglichen absoluten Mehrheit weiter abfand, wuchsen die politischen Berechnungen. Eine absolute Mehrheit mag in der Momentaufnahme eines Abends die größte anzunehmende Demütigung einer Nicht-Kleinpartei-aber-beileibe-nicht-mehr-Volkspartei-SPD sein.
Langfristig aber sind absolute Mehrheiten (zumindest wenn man nicht über Bayern spricht) nicht selten der Beginn absoluter Niederlagen. Keine geliehene programmatische Unterfütterung einer inhaltsleeren Union, vor Allem aber die Ankündigung Angela Merkels, den Sechzehn-Jahre-Rekord Kohls nicht ebenfalls anzustreben – für die Union 2017 also nicht mehr anzutreten. Demgegenüber die Aussicht einer gesammelten Linksopposition, die Rot-Rot-Grün dann nicht mehr ungenutzt lassen wird.
Ironischerweise ist vielleicht die wirklich größte Demütigung, die die Union den Überbleibseln des einstigen rot-grünen Projekts beibringt, die Tatsache, dass sie eine der beiden Parteien jetzt in eine Koalition mit ihr nötigt. Aus offensichtlichen Gründen (insbesondere was die karnickelartige Vermehrung von Großen Koalitionen in den Bundesländern angeht) scheint die publizierte Erwartungshaltung von einer Koalition aus Union und SPD auszugehen. Schwarz-Grün dient nach dieser Logik lediglich als Sendezeitfüller der Politformate von ARD, ZDF, und Phoenix.
Falsch liegt man damit trotzdem. Menschen ohne – aktuelle oder ehemalige, zumindest aber irgendwie emotionale – Parteibindung an die SPD können kaum ermessen, wie traumatisch die Große Koalition (genauer: die Rolle des Juniorpartners) in der SPD ist. Gemäß der inoffiziellen Sprachregelung der Politreporter wird diese Realität in druckfähige Formulierungen gepackt, es gäbe “gewisse Vorbehalte” in der SPD, sie “ziere sich”. Wirklichkeitsgemäß müsste man sagen: die Große Koalition ist abgrundtief verhasst.
Vor diesem Hintergrund ist es ausgesprochen unterhaltsam, wie sich in der ARD Jörg Schönenborn an seinen Nachwahlumfragen austobt. Wie er die haushohe Präferenz der Unionswähler für eine Große Koalition (gegenüber einem nur marginalen Zuspruch für Schwarz-Grün) mit der Frage abschließt, ob sich Angela Merkel wohl an den Wünschen ihrer Wähler orientiere.
Als ob dies überhaupt von Bedeutung wäre. Angela Merkel und die CDU/CSU sind die letzten, die nun über ihren künftigen Koalitionspartner entscheiden können. Die nächsten Tage werden nicht geprägt sein von einer Union, die ihren Partner frei wählen darf. Vielmehr wird die SPD versuchen, der medialen Darstellung ein glaubhaftes Narrativ zu unterbreiten, warum gerade sie mit Angela Merkel nicht koalieren könne – was in Form eines kleinen Parteitags erfolgen wird, der per Beschluss in die Opposition führen wird.
Die Grünen werden entweder eine im Effekt ähnliche Lösung anstreben, oder aber, was nach der heutigen Pressekonferenz der Grünen wahrscheinlicher ist, Schwarz-Grün mit Legitimation zu unterfüttern versuchen. Wenn diagnostiziert wird, dass die Ausflüge ins Steuerrecht, die Nichtzuspitzung auf Umweltthemen, den Grünen geschadet haben; wenn Trittin dann unwidersprochen neben Roth, Özdemir, und Göring-Eckhart einen “Fall-back” geißelt – die schleichende Rückabwicklung der Energiewende, die es für Grüne zu verhindern gälte (möglichst bald, darf man sich hinzudenken); und wenn Kretschmann (zu Recht) darauf hinweist, dass der Platz der Grünen nicht zwischen SPD und Linkspartei sein kann, dann ist das der Beginn eines Prozesses, an dessen Ende Schwarz-Grün stehen könnte. Stehen sollte.
Die Umstände wären rundherum unglücklich, zweifellos. Sogar hässlich. Aus einem Sieg mit Stimmenzugewinn heraus ließe sich das leichter vollziehen als mit einem reduzierten Wahlergebnis, das noch größtenteils die linke Kernwählerschaft gesichert hat. Und dann auch noch mit dieser Union! Keine urbane Von-Beust-CDU, sondern eine mächtige CDU mit weiß-blauem Anhang. Die Bauchschmerzen bei den Grünen sind real, sind berechtigt. Sie mögen es sogar im selben Ausmaß sein wie bei den Sozialdemokraten. Es gibt auch keinen Automatismus, wonach Schwarz-Grün bei der nächsten Bundestagswahl nicht zu weiteren Schäden bei den Grünen führt, und nicht sofort vergessen sein wird nur weil man dann Rot-Rot-Grün anstrebt.
Hinsichtlich der Mehrheitsalternativen muss man aber erkennen: Rot-Rot-Grün darf es in dieser Legislaturperiode nicht geben, egal auf wie viel fast schon schmerzhafter Dummheit der Ausschluss dieses Bündnissen beruht. Es würde Rot-Rot-Grün gewaltig beschädigen, weil dieses Bündnis der Akzeptanz wegen durch einen Wahlkampf legitimiert sein muss. Einen Wahlkampf, in dem das Bündnis einerseits nicht explizit ausgeschlossen wurde wie diesmal. Einen Wahlkampf aber auch, der in einer “echten” Mehrheit resultiert, denn man muss offen zugeben, dass die jetzige linke Mehrheit ein Betriebsunfall des Wahlrechts ist, der Tatsache geschuldet, dass zwei Parteien wegen jeweils fehlender Prozentbruchteile nicht in den Bundestag einziehen. Knapp zehn rechte Prozent bleiben draußen, und nur das macht SPD, Linke, und Grüne mit zusammen 42,7% minimal stärker als CDU/CSU allein. Tatsächlich hat das linke Lager abermals Zuspruch verloren.
Trittin hat korrekt diagnostiziert: Deutschland hat eine konservative Mehrheit. Bei den nächsten Landtagswahlen würde es die SPD als Konsequenz der erwartbaren (und berechtigten) Wortbruch-Rachefeldzüge außerdem zerlegen, die rot-rot-grüne Bundesratsmehrheit wäre dahin.
Dass Schwarz-Grün eine gewaltige innerparteiliche Herausforderung wäre, ist klar. Es ist dies aber zur Stunde die Aufgabe der Grünen, auch und gerade um Willen einer zukünftigen linken Mehrheit. Denn wenn die Zuerst-23%-jetz-25%-SPD nochmals eine Große Koalition eingeht, wird man mit einiger Berechtigung zittern dürfen, ob sie bei der nächsten Wahl überhaupt noch 20% erreicht. Ohne die SPD aber wird es Rot-Rot-Grün ohnehin nie geben. Jede Dezimierung, die die Grünen zu fürchten hätten (zur Erinnerung: bis zur Fünf-Prozent-Hürde sind es nochmal -3,1%), ist geringer als die sichere Bestrafung der SPD. Grünenwähler, vereinfacht gesagt, wählen mit dem Kopf, SPD-Wähler mit dem Herz – und ebenso flüchten sie. So ernüchternd es sein mag: bei der SPD gibt es noch Potential nach unten.
Im Interesse eines zukünftigen rot-rot-grünen Bündnisses muss man es deshalb vielleicht galgenhumoristisch sagen: Schwarz-Grün ist kurzfristig ein linkes Projekt.