In den letzten Tagen versuchen alle möglichen Kommentatoren, die Lage in Ägypten zu beurteilen, ohne die eigenen Vorlieben einfließen zu lassen. Da wir aber nun einmal als westliche Demokraten fast alle keine Sympathien für Islamisten haben, fällt es schwer, den Militärputsch auch ordentlich zu verurteilen, so wie es die AU und die UN getan haben.
Der allgemeine Tenor in der (westlichen) Presse: Verwirrung. Irgendwie war Mursi schlimm, aber irgendwie ist der Putsch auch nicht so toll, also bitte bald wieder die Macht an eine zivile, nicht-islamistische Regierung abgeben. In der Masse aus Geschwurbel taten sich meiner Meinung nach vor allem zwei Kommentare hervor, die etwas interessanter waren.
Auf Alsharq argumentiert Mohamed Lamrabet, dass die ägyptische Demokratie zu jung, Mursi zu inkompetent war, um ihn länger an der Macht zu lassen.
Schließlich hat das Militär als einzige Instanz nach Monaten des Regierens seine Macht 2012 ohne größere Komplikationen an eine frei gewählte Regierung abgegeben. Die Demonstranten können deshalb davon ausgehen, dass das Militär auch diesmal wieder in der Lage sein wird, einen sicheren Übergang zu freien Wahlen zu gewährleisten.
Lamrabet konzentriert sich also vor allem auf die Hoffnung, dass die Armee die Macht wieder abgibt, womit ja alles in Ordnung wäre und der Coup nur ein kurzes Intermezzo.
Für Spiegel Online zeichnet der Broder-Freund Hamed Abdel-Samad ein größeres Bild: das des Kampfes zwischen Islamisten und westlichen Eliten.
Wann immer die Islamisten nach der Macht griffen, gab es zwei Szenarien: Gelang ihnen die Machtergreifung, so regierten sie mit eiserner Hand und verwandelten ihre Gesellschaften in Freiluftgefängnisse wie Iran, Afghanistan, Somalia oder Sudan. Wurden sie von der Macht verdrängt wie in Algerien Ende der achtziger Jahre, verwandelten sie sich in terroristische Organisationen und richteten Blutbäder auch in der Zivilbevölkerung an.
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Denn Ägypten war immer das Zentrum des radikalen Islam. Also kann man die Intervention der Armee auch als Verteidigung nicht nur der Freiheit der Ägypter, sondern auch unserer Freiheit hier im Westen verstehen.
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Was die Armee am 3. Juli machte, war kein wirklicher Putsch, sondern eine Geiselbefreiungsaktion.
Im Übrigen sei ja Mursi zwar legal korrekt gewählt, aber schon lange kein legitimer Präsident mehr.
Um meine Kritik daran zu erläutern, muss ich noch ein wenig weiter ausholen.
Es war ja wohl jedem klar, dass die Revolution nicht direkt zu einer wunderbar funktionierenden Demokratie führen würde, sondern zunächst mal vor Allem zu einer Politisierung der während der Diktatur entpolitisierten Massen. Wer damals auf die Straßen ging, war meist eben nicht in einer existierenden Partei – die einzige nennenswerte Oppositionskraft waren die Muslimbrüder. Wenig überraschend nutzten sie also die folgenden Wahlen, um aus einer Bewegung Kapital zu schlagen, mit der sie am Anfang nicht gerade viel zu tun hatten.
Nach dem Regime gab es ein politisches Vakuum und ein Machtvakuum. Ersteres füllten die Muslimbrüder, letzteres die Armee.
Jetzt fing der Alltag der Politik an, aber zwischendurch wurden beide Kammern des Parlamentes aufgelöst. An der Verfassung dann konnten Muslimbrüder und Salafisten beinahe im Alleingang rumschrauben, und mit einer sehr geringen Wahlbeteiligung kam diese auch durch, noch bevor sich die Opposition nennenswert positionieren konnte.
Das ist in mehrerer Hinsicht interessant. Zunächst einmal sind politische Systeme, und gerade Demokratien, sehr schwerfällig und resistent gegenüber Veränderungen. Darum ist die Anfangsphase (Rousseaus Gesetzgeber!) so wichtig – was da durchgesetzt wird, beispielsweise in der Verfassung, ist nachher schwer zu ändern. Da die sich nun neu organisierende Opposition weder in der Regierung, noch in einem existierenden Parlament (wurde ja aufgelöst) vertreten war, musste sie versuchen, ihre Anliegen auf die Straße zu tragen.
So hatte ich dann auch die Ankündigung Tamaruds verstanden: als Machtdemonstration, um sicherzustellen, dass ihre Anliegen nicht länger ignoriert werden. Es kam aber ganz anders.
Die Armee nämlich hat Mursi weggeputscht, anstatt zuzusehen, wie der Druck auf ihn zunimmt und er Reformen einleitet. Was nun aussieht wie ein Sieg der Opposition ist leider keiner, denn mal wieder wurden die Massen von einer Elite gekapert – diesmal nicht von den Muslimbrüdern, sondern von den Generälen. Denn die Verfassung ist nicht das einzige, was schwer zu verändern ist.
Die politische Kultur, die Judikative, und die Ministerialbehörden sind ebenfalls träge, stammen noch aus Zeiten der Diktatur (also aus denen Mubaraks) und begünstigen allesamt das Militär. Indem also der Präsident abgesetzt wurde, wurden dringend nötige Reformen in den Behörden extremst verlangsamt (und das sind dieselben undemokratischen Behörden, die massive Gewalt gegen Demonstranten durchgesetzt hatten). Die Judikative wurde wiederum gestärkt durch die Ankündigung, den Präsidenten des Verfassungsgerichts zum Interimspräsidenten zu ernennen. Und die politische Kultur schließlich wurde massiv zu Gunsten des Militärs verändert – jeder zukünftige Präsident wird die Macht des Militärs fürchten müssen.
Anders als Lamrabet also behauptet gibt das Militär die Macht folglich nicht wirklich ab; selbst unter einer zivilen Regierung wären seine Pfründe ebenso gesichert wie sein Einfluss. Und anders als Abdel-Samad behauptet geht es hier nicht um Islamismus; es geht darum, die Macht des Militärs zu sichern. Der Putsch wäre auch andersherum denkbar gewesen.
Mursi hatte ein einziges Jahr. Das reicht nicht, um irgendetwas zu erreichen. Es reicht nicht, um die Wirtschaft zu retten. Ganz im Gegenteil: die anhaltende Instabilität durch den Militärputsch wird der Wirtschaft mehr schaden als weitere drei Jahre Inkompetenz an der Spitze es vermocht hätten (denn ja, Mursi war inkompetent, insbesondere in Wirtschaftsfragen). Und dass man jetzt Muslimbrüder verhaftet, werden diese so schnell nicht vergessen. Selbst im besten Falle ist die Folge kein Bürgerkrieg, sondern “nur” anhaltende Gewalt, die jede kommende Regierung schwächt und – Überraschung! – noch stärker abhängig werden lässt von der friedenssichernden Macht des Militärs.
Das Militär hat sich so, ganz nebenbei, ein eigenes Bedrohungsszenario geschaffen, und wie wir aus zahllosen Beispielen wissen (hallo, Bush!), nützt ein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis nur dem militärisch-industriellen Komplex – in diesem Falle werden praktischerweise gleich beide Sektoren von den Generälen kontrolliert.
Ein solcher Sicherheitswahn in Zeiten des politischen Konfliktes und der politischen Gewalt aber ist der schlimmste Feind einer jeden Demokratie.
One thought on “In Ägypten hat nur das Militär gewonnen”