Die Flüchtlingshilfe vor dem Berliner Lageso und der Münchner Bayernkaserne lösen manche Probleme, die die Behörden überfordern. Wie professionell kann vermeintlich provisorisches Engagement sein?
Herbert Grönemeyer, Sportfreunde Stiller und Fettes Brot treten auf, moderiert von Joko Winterscheidt. Knapp 14.000 Zuschauer, 10.000 Helfer und Flüchtlinge: Zumindest in München ist die Helferszene über vereinzeltes Engagement hinausgewachsen. Wenn Bündnisse wie das „Bellevue di Monaco“ die Großen in der Musikszene auf die Bühne bringen und umsonst ein Konzert für eine riesige Menschenmenge organisieren, stellt sich die Frage, wie provisorisch die Hilfe sein kann.
Wenn der Staat Hilfe braucht
Provisorisch sollte Flüchtlingshilfe sein. So sieht das der Gesetzesgeber vor. Für Unterkunft, Sprachkurse und Versorgung mit grundlegenden Konsumgütern wie Essen und Kleidung sollte der Staat aufkommen – doch faktisch übernehmen engagierte Bürger diese Rolle in zunehmendem Maße.
Beispiel Hamburg: Hier etwa stehen täglich Freiwillige am Hauptbahnhof mit Schildern auf Arabisch und Englisch , um Neuankömmlingen zu erklären, wie man Tickets der Deutschen Bahn kauft oder wo es zur nächsten Aufnahmestelle geht. Im Berlin wiederum sammeln Bürger wie der Medizinstudent Ahmed Sarhan privat obdachlose Flüchtlinge auf und nehmen sie bei sich auf, meist für eine Nacht, bis die Stadt eine Unterkunft klärt oder das schlimmste Unwetter überstanden ist. Die Flüchtlinge stehen oft Stunden- wenn nicht tagelang vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo). Freiwillige, wie das Bündnis „Moabit hilft“, sorgen für das Nötigste, übernahmen Verwaltungsfunktionen – Aufgaben des Staates.
Dass Freiwillige staatliche Aufgaben übernehmen, bestätigen auch Dr Vey und Dr Sauer vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung. So könne staatliches Versagen abgemildert werden, oft auf Kosten der Helfer: Überlastung könne die Folge sein. Die Fraktionschefin der Grünen, Kathrin Göring-Eckardt, sprach schon im September von einem Versagen der Bundesregierung; sie habe nicht genügend Unterkünfte zur Verfügung gestellt sowie Kommunen und Länder allein gelassen. Die Bundesregierung sieht das anders – im Interview mit dem Standard sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière etwa, die Lage bekäme man nach und nach in den Griff. Auch das Berliner Lageso, lange Zeit in der Kritik wegen der Zustände vor Ort, sieht Fortschritte – so habe man die Zahl der Registrierungen erhöhen können, durch ein neues Verfahren für mehr Gerechtigkeit gesorgt, und Betreungsmöglichkeiten für minderjährige Flüchtlinge geschaffen.
Und tatsächlich: Staatliche Strukturen arbeiten intensiv mit Helfern zusammen. Die Caritas betreibt zusammen mit der Stadt München die Seite „Willkommen in München“ , auf der Hilfsprojekte vorgestellt werden und Freiwillige sich informieren können. Die Städte profitieren dabei vom Engagement und der Professionalität Freiwilliger, die Versorgung von Flüchtlingen wäre oft ohne sie kaum möglich.
Freiwillige beginnen oft aus individueller Empathie und enden in organisierten Netzwerken
Die Freiwilligen scheinen dabei oft besser organisiert als die Behörden. Das Muster wiederholt sich – 2013 waren es Freiwillige, die halfen, die katastrophale Lage in der Münchner Bayernkaserne zu überwinden, heute sind es erneut Freiwillige vor dem Berliner Lageso, die das schlimmste verhindern. In beiden Fällen entstehen Kooperationen mit Behörden, aber auch weitergehende Netzwerke.
Teilweise greifen sie auf bestehende Strukturen zurück, wie etwa die Münchner SchlaU-Schule, die nicht nur Alphabetisierungskurse anbietet, sondern Flüchtlinge bis zum Hauptschulabschluss führt und anschließend bei der Arbeitssuche unterstützt.
Auch hier engagieren sich mehr Menschen – so wie Clara Tolle. Ihr liegt vor allem daran, im zwischenmenschlichen etwas zu bewegen, statt in „großen“ Strukturen, wie Parteien oder Demonstrationen. So wie sie seien viele unpolitische Freiwillige aktiv geworden – und dann über Projekte der SchlaU-Schule in weiteres Engagement eingebunden worden. Solche Netzwerke sind enorm wichtig für die Flüchtlingshilfe. In München etwa haben „Bellevue di Monaco“ nicht nur das Gratis-Konzert für Helferkreise organisiert, sondern auch die Anti-Pegida Demonstrationen mit bis zu 20.000 Menschen initiiert und auch sonst in der Helferszene kräftig mitgemischt.
Engagement führt zu mehr Engagement
In der Politikwissenschaft sind diese sozialen Netze besonders interessant für die Bewegungsforschung. Nachdem Studentenrevolte, Umwelt- und Friedensbewegung eine politische Sphäre jenseits der Parteien und Interessensgruppen eröffnet hatten, beschäftigten sich immer mehr Forscher mit sozialen Bewegungen und politischer Partizipation.
Das Ressourcen-Modell von Verbal, Schlozman Brady (1995) zeigt einen Zusammenhang zwischen Verfügbaren Ressourcen und politischer Aktivität. Nach ihrem Modell sind Zeit, Geld und Wissen entscheidende Ressourcen. In einer Erweiterung ihres Modells gehen sie davon aus, dass soziale Netzwerke und Sozialisation zur Partizipation motivieren, während Ressourcen diese ermöglichen. In der neueren Literatur wird das Konzept von Engagement erweitert; wie Nevè und Olteanu (2013) argumentieren, können auch scheinbar nicht politische Akte, wie etwa Slogans im öffentlichen Raum, den politischen Prozess beeinflussen. Engagement in scheinbar nicht politischen Gruppen, wie Sportvereinen, das aber politische Effekte hat (Fußball-Fans bei den Protesten in der Türkei und Ägypten etwa waren wichtige Akteure), wird zunehmend thematisiert.
In den 90ern wurde vielfach ein Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Engagement gezeigt: Wer Zugriff auf viele Ressourcen wie Geld und Zeit hat, der engagiert sich mehr. Wo Menschen sich schließlich engagieren, ist aber nicht abhängig von Ressourcen, sondern von Sozialisation und Netzwerken. Mit anderen Worten: Jemand, der Flüchtlingen Sprachhilfe gibt, ist wahrscheinlich schneller bei der nächsten Demonstration gegen Pegida aktiv als beim lokalen Umweltschutzverband.
Immerhin kennt diese Person andere Aktivisten, ist in den entsprechenden Verteilern und hat wichtige Fähigkeiten erworben. Denn auch Engagement will gelernt sein – wie melde ich eine Hilfsaktion ordnungsgemäß an? Wie verteile ich Güter schnell an Bedürftige? Wie organisiere ich Helfergruppen? Ein Zusammenhang, den Dr Sauer und Dr Vey ebenfalls betonen: Strukturen trügen zu Vernetzung und dem Austausch von Engagierten bei. Ob es aber hauptsächlich bei nachbarschaftlicher Hilfe bleibt, oder mehrheitlich überregionale Bündnisse entstehen, sei noch nicht absehbar.
Die Zivilgesellschaft hat dazu beigetragen, dass Asylthemen in München früher als anderswo diskutiert wurden
Wie das aussehen kann, lässt sich in München beobachten. Vor zwei Jahren teilten sich dort 2000 Flüchtlinge Feldbetten in der überfüllten Bayernkaserne, die Behörden wirkten überrumpelt von der Situation, und in der Umgebung drohte die Stimmung gegen die wachsende Anzahl von Flüchtlingen zu kippen. Trotz rechtsextremer Parolen und zunehmenden Problemen im Umfeld der Unterkunft gelang es engagierten Helfern über Monate, die Lage zu verbessern sowie Anwohner und Behörden einzubinden.
Heute finden sich kaum noch rechtsextreme Parolen, die Helfer sind professionell aufgestellt, arbeiten problemlos mit Behörden zusammen und werden sogar von den Anwohnern geschätzt. Und die Behörden haben Ansprechpartner.
Martin Nell von der Regierung Oberbayerns lobt die Zusammenarbeit mit der Kommune, dem Bezirksausschuss und Ehrenamtlichen: Aufgaben würden auf mehrere Schultern verteilt. Er weist aber auch darauf hin, dass die öffentliche Aufmerksamkeit sich verändert hat in den letzten Jahren.
Dazu haben dieselben Ehrenamtlichen beigetragen, die schon 2013 da aushalfen, wo die Behörden nicht nachkamen. Das Thema stand in München schon auf der politischen Agenda, als September vergangenen Jahres mehr als 160.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen und Unterkünfte für Asylbewerber auch bundesweit diskutiert wurden.
Das geht so weit, dass Ende Oktober ein völlig neues Problem entstand: In München waren die Helfer nicht mehr ausgelastet, die Notquartiere standen plötzlich leer, nachdem die Anzahl der Flüchtlinge abgenommen hatte. Anderswo im Land war man weniger vorbereitet und ausgerüstet, die Helfer fehlten ebenso wie die Unterkünfte.
Wenn lokale Bündnisse wachsen, treten sie selbstbewusster gegenüber der Politik auf
In Berlin etwa gründeten Ehrenamtliche, die sich schon lange in der Flüchtlingshilfe engagieren, Ende 2015 den Verein „Moabit hilft“ – und treiben seitdem eine Professionalisierung der Szene voran. Sie betreiben unter Anderem die Plattform „Berlin hilft Lageso“, auf der Interessierten Informationen angeboten werden, um sich zu engagieren. Das ursprüngliche Engagement reagierte auf Notlagen – angetrieben durch eine stärkere Vernetzung verändert sich das Engagement aber teilweise.
Im November gab es zum ersten mal ein Treffen von 60 ehrenamtlichen Initiativen in Bayern. Das ebnet nicht nur den Weg zu einer verstärkten landesweiten Zusammenarbeit – es entstehen auch politische Forderungen, die mit mehr Nachdruck vertreten werden. So fordert der Bayrische Flüchtlingsrat nach dem Treffen „eine landesweite Initiative zum sozialen Wohnungsbau, die auch Landkreise und Kommunen einbezieht, damit den anerkannten Flüchtlingen – aber auch den bereits hier lebenden sozial Bedürftigen – langfristig erschwinglicher Wohnraum zur Verfügung steht“.
Überregional passiert noch wenig, Engagement scheint von lokalen Problemen und Netzwerken auszugehen. Der Berliner Verein „Benefit e.V.“, gegründet von der Gruppe „coders4help“, betreibt die Seite „Volunteer Planner“, auf sich mittlerweile Interessierte eintragen können, um bundesweit in Flüchtlingsunterkünften zu helfen.
Auch ursprünglich individuell motivierte Freiwillige, die in einer dieser Initiativen aktiv sind, agieren damit politisch. Und je mehr Professionalisierung und Vernetzung stattfindet, desto effektiver wird auch die politische Arbeit – zu den bayrischen Gruppen könnten Berliner Initiativen wie „Moabit hilft“ stoßen und ihren Forderungen gegenüber der Bundesregierung damit Rückhalt geben. Und damit potentiell bundesweit etwas bewegen. Solange die Flüchtlingshilfe aber im Kleinen bleibt und keine gemeinsamen Forderungen entwickelt werden, beschränken Helfer sich auf die Rolle als Notfalllösung für überforderte Kommunen.