Die Studentschaft der multipolar gegliederten Welt kennt weniger Ortspatriotismus als früher. Ich erlebe das in dem Dorf, in dem ich groß geworden bin, wie in den Städten. Die Verteidigung des Wohnsitzes als ultimativ ist schwächer geworden. Man beharrt nicht mehr ganz so stark auf die Irrationalismen der lokalen Identität. Köln feiert freilich den besseren Karneval als Mainz und sowieso als Düsseldorf und für Kölner_innen ist Fasching gar kein Karneval. Die Zeiten, in denen sich Kölner Stadtteil konfessionell deutlich definierten oder Dörfer den Wegzug eines Einwohners als Sündenfall bewerteten, sind wohl vorbei.
Es gibt nationale Identitäten, das kann man nicht leugnen, und gerade bei den Nachbarländern ist das erstaunlich. Polen ist so anders als Deutschland, die Niederlande auch. Für den Fremden sind Lokalpatriotismen in anderen Ländern immer überraschend, weil wir Polen als ein Land sehen, nicht als Ansammlung von Regionen. Aber versuchen Sie mal, einen in Deutschland nicht kundigen Menschen die regionalen (wirtschaftlichen, infrastrukturellen, sozio-politischen) Unterschiedlichkeiten in NRW zu erklären.
Die Studienverläufe heutiger Studenten sind lassen sich zum Beispiel mit dem Heideggerschen Terminus des „Geworfensein“ erfassen. Durch eine Anzahl vorher gewählter und schon feststehender Bedingungen (beherrschte Fremdsprachen, Studieninteressen, bevorzugte Städte, soziale Netzwerke..) wählen wir unseren nächsten Studien- oder Arbeitsort und die nächsten Studienkurse, Praktika oder Jobs. Vulgärphilosphisch aktualisieren wir hier den Begriff, indem wir den modernen Studenten mit dem Ball in einem Flipper vergleichen. Er wird reingeschossen in das System, das seine Spielregeln hat, Federn, Klappen, Löcher. Unten sind die beiden Ärmchen, mit denen man den Untergang abwenden kann, und das tun wir mit viel Energie, obwohl der Einfluss der Aktionen nur punktuell sinnvoll ist. Erfahrene Spieler_innen haben hierbei mehr Ruhe. Sie wissen auch, dass man sich neue Leben erspielen kann. Sie wissen auch, dass man eine zweite und auch eine dritte Chance hat. Einen hohen Score möchte man aber nicht verlieren.
So prallen wir von einer leuchtenden Klingel zu einer Beschleunigungsbahn durch einen Gitterkorb, der uns wieder mit Energie auflädt, bedudelt von dem Musikrhythmus, der das von uns gewählte Spiel begleitet. Wir sind in dem Käfig gefangen. Wer ein paar Jahre im europäischen oder weltweiten Unisystem verbracht hat, kennt die ausgetretenen Trampelpfade zwischen den Kantinen, Bibliotheken, Seminaren, Studierendenwohnheimen und Kneipen. Das sind stets die gleichen Wege. Man verkehrt im gleichen Kosmos, mit ähnlichen Leuten, als Fremder vor allem mit der lästigen „international crowd“, die den Weg zum „typischen Lokalstudierenden“ versperrt, der einen aber möglicherweise gar nicht kennenlernen möchte. Dieser Flipper ist hektisch und laut und schnell. Schnell, wenn man ihn mit früheren Lebensverläufen vergleicht, die schon durch mangelnde Visa- und Freizügigkeitsabbkommen eingeschränkt waren.
Irgendwie entwickelt man nach einer gewissen Zeit Beziehungen zu diesem Ort, an dem man rumgeschubst wird und hin und her hastet und ausruht. Der Begriff „Heimat“ mieft zu sehr, als dass er hier zutrifft. „Ortsbezug“ ist richtig und technisch, denn unsere Beziehungen zu einem Ort sind Funktionen nach einer ganz modernen, systemphilosophischen Denkweise. Man kann seinen Ort lieben oder hassen, aber man verbindet mit ihm irgendwelche Erinnerungen, entwickelt ein Orts- und Personengedächtnis und erlernt den praktischen Umgang mit den lokalen Funktionen. Einfaches Beispiel ist die Kenntnis der öffentlichen und quasi-öffentlichen Toiletten, die man nutzen kann, wenn man in der Gegend unterwegs ist. Oder wo man einigermaßen (regen)sicher auf etwas warten kann. Wo man günstiges, warmes oder kaltes Essen kaufen kann. Wie man vor Ort jemanden um Hilfe bittet. Wo man gemütlich frisches und günstiges Bier vom Zapfhahn bekommt.
Wenn man seinen Ort hasst, kann man weggehen. Vielleicht (!) neigen wir eher zur Ortsliebe als zum Ortshass, denn so ist es einfacher den Ort des eigenen Aufenthalts zu ertragen.
Es gibt Dinge, die man als besonders und liebenswert hervorhebt. Ich erinnere mich an eine Freundin, die in den letzten Jahren an verschiedenen Orten Europas und Lateinamerikas gelebt hat und sich sehr angegriffen fühlte, als ich das Gebäude der Berliner Philharmonie unweit des Potsdamer Platzes als ein „hässliches klosteingelbes Ding“ bezeichnet habe. Das Ding hatte ich einen Monat lang auf meinem Arbeitsweg betrachten können. Davor war ein kleiner Kaffeewagen mit einem etwas hysterischen Barista hinter der Theke, mit dem ich täglich ein paar unverbindliche Worte wechseln konnte. Es war schweinekalt in diesem meinem Berliner Februar und der Espresso war in wenigen Sekunden kalt. Das ist vielleicht ein guter Gradmesser, wie lange man in der Kälte regungslos stehen darf. Ich hielt mich nicht an diese Maßeinheit, ich war im Nu krank und hustete aus den tiefen meiner Lunge jeden Morgen in der Frühbesprechung vor mich hin.
Das Gebäudeensemble der Berliner Philharmonie ist grünstichtig-gelb und die Fassade besteht aus einem aus der Ferne nicht beurteilbaren Stoff netzartiger Struktur. Bei langer Betrachtung und Beurteilung kann man dem Ganzen etwas abgewinnen, aber ich habe bei den ersten Begegnungen die Dinger nicht spontan „schön“ gefunden.
Natürlich hat diese Freundin nichts mit dem Bau der Philharmonie zu tun und keine berufliche oder private Verbindung dazu, außer dass ihr Berliner Chor ein einziges Mal darin einen Auftritt hatte. Es lag vielleicht auch der Gesprächsstrategie, dass man extreme Meinungen oder ziemlich festgelegte Meinungen relativiert oder gerne das Gegenteil behauptet, um ein durch feste Meinungen imaginiert beschädigtes Gleichgewicht wieder ins Lot zu bringen. Wir beide haben nie lange in Berlin gelebt, um wirklich lokalpatriotisch zu sein.
Der Ortsbezug einer Person findet irgendwie seine charmanten Ausreden für manche als Defizite Gegebenheiten des eigenen Ortes. Die räumliche Beschränktheit der Niederlande, die industrielle oder modernistische Hässlichkeit vieler deutscher und französischer Städte und ihre saubere, sterile Kälte, die aussterbende osteuropäische und ostdeutsche Tristesse, das Beton- und Stahlgrau, die unentschuldbare Enge und Unmenschlichkeit von Zweckbauten, die günstig und praktisch sind, aber hässlicher als vorstellbar. Anders kann man künstlerische Sichtweisen wie „Industrieromantik“ nicht erklären.
In Mietskasernen mit einheitlichem Aufbau fiel mir der Aufbau eines positiven Ortsbezugs bisher am schwersten. Wenn niemand den anderen auf dem Flur kennt, manche Zimmer nur tageweise belegt sind, keiner sich um die Gemeinschaftszimmer kümmert und die Verwaltung der Anlage sich in unverständlichen Schachzügen übt, plötzlich aktivistisch umbaut ohne Ankündigung oder in Gemeinschaftsräumlichkeiten alles entfernt, hier mal neu streicht und da eine Wand mit Hinweiszetteln tapeziert.
In diesen äußerst tristen Wohnorten muss man ein ganz besonderes Pathos entwickeln, um sich doch noch wohlzufühlen. Man begeht Farbenexzesse in der eigenen Wohnung und übersieht schlicht die Hässlichkeiten, um sich über den einzelnen Marienkäfer zu freuen, der das Leben im Umfeld des Betons repräsentiert.
Den Ortsbezug strukturiert für mich kein monumentaler Solitär wie die uringelbe Berliner Philharmonie, sondern zweierlei Strukturen: Der eigene Wohnraum und der bevorzugte Auslauf.
Jeder hat seine Wege, zum Bäcker, zur Arbeit, zur Bib, zu den Freunden, zum Training, zum Supermarkt. Diese Wege wachsen ans Herz, man wird sich sehr lange an sie erinnern können, sie noch Jahre später abgehen können. Für andere überhaupt nicht melancholische Sätze wie „hier war mal ein Aldi“ entwachsen diesen Gefühlen der Erinnerung und keiner versteht, was so besonders war an diesem Aldi, der sowieso weg ist.
Den eigenen Wohnraum muss man sich herrichten, schmücken, gemütlich machen. Es macht krank, wenn man sich da nicht wohlfühlt. Das Drumherum der Stadt ist eine Folie, ein wenig wie die Landschaft hinter den Fenstern alter Filme, die eine sich im Kreis bewegende Tapete war. Niederländische Städte sind einigen an ihrer Oberfläche bis in die letzte Ecke recht hübsch, dass es wehtut, vergleichbar mit besonders schmucken schwäbischen Dörfern. Die Schönheit verliert schnell ihre überwältigende, anfängliche Ausstrahlung, die Hässlichkeit der austauschbaren Kleinstadt vergisst man aus Selbstschutzgründen. Der Ort, an dem man lebt, ist auch gerne der Sündenbock für alles. Man überschätzt gerne die Bedeutung der Infrastruktur für das eigene Glück, wenn man sowieso den Großteil des Tages arbeitet.
Hingegen: die sozialen Kontakte sind so wichtig an den Orten, an denen man lebt. Die Lebbarkeit von sozialen Kontakten sind durch die lokalen Strukturen bedingt, die Anwesenheit anderer Menschen, mit denen man Kontakt haben kann. So entstehen die privaten Karten und Gefühle, die uns mit Orten und Menschen verbinden. Die Erinnerung an die miefige Mansarde mit dem lauten und energiefressenden Wasserboiler. Die WG mit der Badewanne, die ein Loch hatte, die niemand reparierte. Der WG-Flur mit den runterhängenden Kabeln, deren Bedeutung niemand kannte. Die ständig kochenden Frauen in der spanischen Groß-WG-Küche eines Freundes. Der permanente Teelöffelmangel in der WG-Küche. Die monatelange Suche nach dem Sicherungskasten, der sich schließlich beim Auszug hinter der Tür fand, die immer offen stand. Essensrituale der Wohngemeinschaften. Dauermenstruierende WG-Hunde. Frühstücken mit dem schriftstellernden Mitbewohner, der nach einer durchgearbeiteten Nach die letzte Zigarette vor dem Schlafengehen mit mir rauchte. Wein aus Tassen. Die Vermieterin, der man stets aus dem Weg ging. Die Nachbarin, die augenscheinlich regelmäßig Gegenstände in ihr Klo warf, um die Nachbarn kennenzulernen und um Hilfe zu bitten. Die WG-Dusche, die sich in der Küche befand, weshalb halbnackte, nasse Menschen ständig vor dem Fernseher liefen. Der Code zu der Wohnung. Der Concierge in der Brüsseler Wohnanlage und die alte Frau in dessen Garten, deren Mann das ganze gebaut hatte und deshalb angeblich ein lebenslanges Dauerwohnrecht für eine Wohnung inklusive Gartenstuhl besaß. Der Nachbarsjunge, der immer Fußball spielt und seine Bälle aus dem lichten Gebüsch nie wieder herausholt (es waren da meist 3-4 Bälle). Die Glühwürmchen im Sommer vor meiner Studentenbude. Das viertelstündige Glockengeläut über den Dächern meiner niederländischen WG. Der Anfang von Beethovens Neunter als Türklingel meiner Kölner WG. Die Sommerhitze beim Spaziergang in Warschau 2013, die wie ein Fön in unser Gesicht geblasen hat. Der grüne Papagei in unserer Wohnung, der eine Mischung aus „Die Brücke am Kwai“ und der Arie der „Königin der Nacht“ aus Mozarts „Zauberflöte“ gesungen hat, jeden Tag, solange die Sonne scheint. Die Schüsse in der Nacht von Köln Kalk, die mich aufgeweckt haben. Der Regen in den Niederlanden, der Nebel in Schlesien und Warschau und Westfriesland und dem Sauerland, der Eisregen in Berlin, der Sturmregen in Nordfriesland, der Sturzregen in Köln und Bonn, das Gefissel in den Niederlanden, die Bremsen auf den nordfriesischen Inseln und an den masowischen Seen, die Mücken in Palanga, die Straßenverkäufer in Venedig, Madrid und Warschau und die Gewitter in den österreichischen Alpen.