Obdachlosenführung in Berlin

Die Postleitzahl 10999 Berlin bezeichnet eine Straße, in der niemand wohnt. Wer 10999 in seinem Pass stehen hat, besitzt keinen festen Wohnort, er ist „obdachlos“ gemeldet. So wie Carsten Voss, jedenfalls bis vor einigen Monaten.

Voss leitet die „querstadtein“-Führung durch Berlin Schöneberg. Ein ruhiger, aber dynamischer Mensch. Unauffällig, leger gekleidet. Er studierte Philosophie, arbeitete als Manager in Berlin, 90 Stunden die Woche, wie man das halt so macht im Business . Dann der Bruch: Hörsturz mit 50, es folgte der Schlaganfall, gesundheitliche Probleme. Man würde es wohl „burnout“ nennen, wenn es denn eine Diagnose gegeben hätte.

Gab es aber nicht, weil er keine Hilfe wollte, sie nicht annehmen konnte. Vielleicht auch, weil er die Folgen unterschätzte. Nach der Kündigung und nachdem das ALG I auslief, ging es ganz schnell – nach nur drei Monaten die Räumung, mit 52 obdachlos, in Berlin. Von der Postleitzahl 10777 zur 10999.

Carsten Voss ist kein Einzelfall; 2010 gab es allein in Berlin 5603 Räumungsmitteilungen. Wie viele davon wirklich geräumt wurde, wie viele ausziehen mussten, bevor es juristisch kritisch wurde, wie viele anschließend keine Unterkunft finden konnten – darüber gibt es kaum Zahlen. Das Thema ist schlecht erforscht, offizielle Statistiken gibt es selten.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe schätzt die Anzahl der Wohnungslosen bundesweit auf 284.000. Das sind fast so viele Menschen, wie Bonn Einwohner hat. Davon leben etwa 11.000 in Berlin. Nicht jeder Wohnungslose ist auch obdachlos, lebt also permanent auf der Straße – in Berlin betrifft das drei bis vier Tausend Menschen, mehr als in jeder anderen deutschen Stadt.

Laut Voss liegt das unter anderem an den vielen Hilfsprogrammen in der Hauptstadt. „Da kommen auch Leute aus Süddeutschland her, das hört man denen auch an“. Die Behörden sind rechtlich verpflichtet, bedürftigen Menschen zu helfen. Aber dazu muss man sich erst einmal durch einen Bürokratie-Dschungel kämpfen. Bei vielen Obdachlosen kommen deswegen nur „niedrigschwellige“ Leistungen, also einfach zu erlangende Hilfen, an.

Das erklärt auch, warum etwa das Berliner Straßenmagazin motz am Nollendorfplatz von Menschen ge- und weiterverkauft wird, die keine Hilfe vom Staat in Anspruch nehmen. „Motz“ kriegt jeder, es gibt nur ein einfaches Formular , das man unterschreibt und das nicht weiter kontrolliert wird; für Hartz IV muss man durch Behörden laufen und sehr viel Papierkram erledigen, noch dazu in einer Sprache, die für Nicht-Juristen kaum verständlich ist. Und das von Menschen, die auch vor ihrer Wohnungslosigkeit meist in prekären Verhältnissen gelebt haben.

Um die Ecke steht ein 24-Stunden-Kaisers, mit einem Pfandflaschenautomaten. Pfandflaschen sind eine Haupteinnahmequelle für Menschen, die sonst weder Einkommen noch Sozialleistungen erhalten. Und da man Pfandflaschen am besten nachts einsammelt, sind die Öffnungszeiten ein wichtiger Faktor.

Denn tagsüber „muss man einigermaßen unauffällig sein, um in der Öffentlichkeit zu überleben“, erklärt Voss. Das gilt auch in liberaleren Vierteln, wo es weniger gefährlich ist auf den Straßen (auch das ist wichtig für Obdachlose). Denn wer auffällt, kann Probleme bekommen.

Und überhaupt, das Öffentliche. Ständig beobachtet, kein sicherer Rückzugsraum – Einrichtungen wie die Wo-Tas, die Wohnungslosen-Tagesstätten, bieten die wenigen privaten Momente. Im Zweifel ist das die halbe Stunde, die man alleine in der Dusche verbringt. Kein Wunder, dass die meisten eher Einzelgänger sind.

Es gibt auch Obdachlose, bei denen das anders ist. Die „Nestflüchter “ beispielsweise laufen in größeren Gruppen umher. Sie sind meist jung und suchen Unterkünfte, die sie für eine kurze Zeit besetzen, bevor sie weiterziehen. Die meisten von ihnen schaffen es laut Voss wieder aus der Wohnungslosigkeit heraus – auch das unterscheidet sie von den meisten Obdachlosen.

Bei ihm selbst hat das sieben Monate gedauert. Dann hat er sich endlich Hilfe gesucht, eine Unterkunft bekommen und dann Hartz IV. Die Angebote gebe es, aber sie seien schwierig abzuholen. Und immerhin hätten ein großer Teil der Obdachlosen psychosoziale Störungen.

In der Tat sind Obdachlose deutlicher häufiger von psychischen Krankheiten betroffen als Menschen mit festem Wohnsitz. Eine häufig zitierte Statistik besagt, dass Obdachlose fünf mal so häufig betroffen sind wie andere Personen. Eine Betreuung durch Fachkräfte ist schwierig und teuer, Psychologen haben lange Wartezeiten; die Hemmschwelle, solche Angebote anzunehmen, ist entsprechend hoch.

Darum sind auch „niedrigschwellige“ Angebote so wichtig. An Einstieg, um andere Hilfsprogramme zu vermitteln, aber auch, um das konkrete Überleben zu ermöglichen. Die Tafeln beispielsweise wurden eigentlich als Hilfe für Obdachlose gegründet. Mittlerweile aber sind die einzelnen Tafeln nach Postleitzahlen gegliedert, nur wer nachweisen kann, dass er in der Gegend wohnt, kriegt auch etwas zu essen. Obdachlose gehören nicht dazu. Sie müssen es beispielsweise bei den Wo-Tas probieren.

Voss zeigt den Viktoria-Luise-Platz, einen unscheinbaren kleinen Park mit einem Springbrunnen. Ein lokaler Treffpunkt für Obdachlose sei das, die Einwohner hälfen auch gerne mal. Er zeigt auf einen Mann: „Der da, der steht immer vorm Kaiser’s. Wenn Frauen einkaufen gehen, lassen sie die Hunde bei ihm für fuffzig Cent oder einen Euro.“

Auch er kam öfter hierher als er obdachlos war, das hier ist sein Platz, er hat in der Nähe gewohnt. Auch wenn es komisch gewesen sei, hierherzukommen, ohne in der Nähe zu wohnen: „Es hat gut getan“. Ein Stückchen Routine, etwas Vertrautes, an dem man sich festhalten kann.

Wer dagegen neu ist in Berlin, der landet oft am Bahnhof Zoo. Die Bahnhofsmission ist eine der größten Einrichtungen dieser Art bundesweit, man muss oft eine Nummer ziehen, um rein zu können. Einwanderer, deren Träume zerplatzt sind landen hier ebenso wie langjährige Obdachlose, deren Bewegungsradius kleiner geworden ist mit der Zeit.

Das durchschnittliche Leben auf der Straße dauert nicht lang. Carsten Voss spricht von 10 bis 12 Jahren, „15 Jahre sind schon viel“. Die Lebenserwartung ist niedrig, mit 50 ist man alt. Todesursachen gibt es viele, Alkoholismus, ein schwerer Winter oder einfach nur eine Todessehnsucht aus Müdigkeit.

Voss arbeitet mittlerweile ehrenamtlich mit Obdachlosen. „Viele haben irgendwann keinen Bezug mehr zum eigenen Körper, das könnte jemand anderes sein“. Viele würden aber auch einfach verschwinden – sind sie tot, umgezogen, oder haben sie es raus aus der Obdachlosigkeit geschafft? Das ist schwer herauszufinden.

Im Leben so anonym wie im Tod. Wer kennt ihre Geschichten, wer kennt ihr Leben? Reden tun die wenigsten, und wenn sie tot sind, ist es zu spät. Die Leichen werden selten identifiziert, ein anonymes „Armenbegräbnis“ wartet auf sie. Zu Lebzeiten schämen sich die meisten, über ihre Obdachlosigkeit zu sprechen, oder aber ihnen fehlen einfach die Zuhörer. Denn auch in der Stadt werden sie ignoriert, beim Spenden schaut man sie am liebsten nicht an und berührt sie auch nicht. Freundschaften oder gar Beziehungen untereinander sind schwer aufzubauen – die meisten seien „Nutzgemeinschaften.“

Genau diese Unsichtbarkeit will „querstadtein“ bekämpfen. Mit Stadtführungen sollen Einblicke in das Leben von Obdachlosen gegeben werden. Die Führungen müssen aber einen schwierigen Spagat schaffen; Voyeuristisch sollen sie nicht sein, aber trotzdem Empathie erzeugen. Der Teilnehmer soll einen Einblick in die Lebenswelt von Obdachlosen erhalten, ohne ihre ohnehin kaum vorhandene Privatsphäre zu verletzen.

Das aber scheint kaum möglich zu sein. Am Ende der Führung steht man als Beobachter da, der wenig wirklich gesehen hat, der nur neue Informationen über Obdachlose bekommen hat. Das ist zwar interessant, aber eben auch keine Stadtführung.

 

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3 thoughts on “Obdachlosenführung in Berlin”

Juhu! Jemand, der nicht bei facebook kommentiert! Oldschool!