… und keinen interessiert’s. So in etwa wirkt die deutsche Politik momentan. Ja, klar doch, die Opposition versucht damit Wahlkampf zu machen – aber den Wähler interessiert es nicht. Und die FDP beschwert sich, ein klitzekleines bisschen, aber bloß nicht zu laut, denn am nächsten Tag will man ja noch koalitionsfähig sein. Wieso eigentlich sorgt der größte Datenschutzskandal seit… ja, gab es denn irgendwann mal einen größeren? Wieso sorgt der also nicht für mehr Aufruhr?
Ein Konflikt, ein politischer Diskurs, wird normalerweise nicht von der breiten Bevölkerung getragen. Die politischen Eliten, also (Spitzen-)Politiker und Parteien, geben die Zielrichtung vor, sie schaffen einen “Spin”, eine Deutung der Geschehnisse. Die Medien greifen diese Spins dann auf, führen sie gegeneinander ins Feld, verbreiten sie, und überprüfen sie (so gut es eben geht) auf Wahrheitsgehalt. So entwickelt sich eine Diskussion, die dann auch bei der Bevölkerung ankommt und damit Wähler mobilisieren kann.
Wenn Medien “Spins” boykottieren
Dieser Logik folgend müsste also die Regierung einen Dreh ins Felde tragen (“Überwachung nicht schlimm, alles kontrolliert”) während die Opposition diesen angreift (“Alles außer Rand und Band”). So weit funktioniert das ja auch. Nur irgendwie kommen diese Erzählungen – außer bei der jeweils eigenen Stammwählerschaft – gar nicht an.
Und das, obwohl die Medien weitestgehend klare Meinungen vertreten: globale Überwachung durch USA/UK geht gar nicht. Sie nehmen aber eben nicht die Erzählung der SPD auf, laut der Merkel versagt. Denn die Medien können schon noch halbwegs objektiv bewerten – und dabei merken sie sehr schnell, dass Rot-Grün, und da vor Allem die SPD, genauso tief mitdrinhängen wie Merkel. Entsprechend wird von SPD-Statements zu der Affäre nur zögerlich berichtet, entsprechend wird vor Allem regierungs- und allgemein politikskeptisch berichtet.
Da damit aber auch das Interesse an dem Thema in der Bevölkerung abnimmt, nimmt auch die Bereitschaft der Medien ab, groß darüber zu berichten; das Thema verläuft sich irgendwie. Warum aber ist die SPD nicht glaubwürdig, wenn sie Kritik an der Regierung übt?
(Update: Diesen Text habe ich am Wochenende geschrieben, bevor ich also wissen konnte, dass es schon 2002 eine Vereinbarung zwischen BND und NSA zum Informationsaustausch und massive Überwachung durch ersteren gab. Davon hätte Rot-Grün also wissen müssen – vor Allem aber Gerhard Schröder, denn der BND untersteht zumindest formal dem Kanzleramt.)
Eingezeichnet sind die Überwachungsprogramme, die bisher bekannt wurden, und die bisher bekannten Jahre, an denen sie zum ersten Mal verwendet wurden. Tempora hatte dabei zwei Teile, die jeweils 2009 und 2011 aktiv wurden. Dazu habe ich die jeweiligen Kanzlerschaften und vier Ministerien aufgeführt, die davon gewusst haben könnten.
Das Außenministerium kümmert sich um internationale Beziehungen, auch zu den USA und Großbritannien, gehört also bei Abmachungen mit diesen Ländern informiert. Das Verteidigungsministerium kümmert sich nicht nur um den Bereich Sicherheit, der offensichtlich davon betroffen ist, sondern hat auch einen eigenen Geheimdienst der Erkenntnisse aus diesen Programmen anfordern und nutzen könnte. Das Justizministerium kümmert sich theoretisch um Verfassungskonformität von Gesetzen und darum, dass Rechte von Bürgern nicht verletzt werden. Das Innenministerium schließlich hat ebenfalls einen eigenen Geheimdienst, kümmert sich um Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit gleichermaßen.
Alle waren irgendwann mal beteiligt
Jetzt kann man davon ausgehen, dass gute Verbündete einander informieren, bevor ein solches Spähprogramm aktiv wird. Andernfalls wären die Reaktionen von Regierungsseite (hoffentlich) deutlich harscher ausgefallen, denn es würde sich um einen eindeutig feindlichen Akt handeln. Ich gehe also davon aus, dass USA/UK brave Verbündete waren und von vornherein zumindest ein wenig informiert haben.
In dem Falle haben SPD und Union in den letzten 12 Jahren fast gleich viel Kontrolle über Ministerien gehabt, in denen sie eigentlich hätten informiert werden sollen. Joschka Fischer und seine Grünen sowie Westerwelles FDP könnten sich damit herausreden, dass Kontakte auf höchster Ebene oder im militärischen Bereich existierten, aber nicht im zivilen, quasi-öffentlichen Bereich, um den sie sich kümmern. Es wäre aber ein Armutszeugnis für die Beteiligung der Außenminister an solchen wichtigen Themen. Eigentlich sind sie nur deshalb einigermaßen sicher, weil sich kaum jemand daran erinnern kann, dass sie mal Außenminister waren respektive sind.
Halbwegs glaubhaft rausgeredet hat sich letztlich nur Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) – denn sie wäre vor Allem für Gesetze zuständig, die Bürgerrechte in Deutschland verletzen, nicht aber für informelle Absprachen. Und das Justizministerium wird in solchen Angelegenheiten eh etwas belächelt.
Bis 2005 könnte die SPD Informationen über PRISM erhalten haben. Ab 2005 war sie in einer Regierung mit Merkel, PRISM und XKeyscore waren im Einsatz und wurden wahrscheinlich auch von deutschen Diensten genutzt – wenn sie also immer noch nichts erfahren hat, dann hat sie (ebenso wie Merkel) versagt. Sie hätte sogar noch von der Planung zu Tempora erfahren haben können.
Wie man es also dreht und wendet – egal, was die SPD der Union anhängen will (mutwilliges Lügen, Inkompetenz), es könnte genauso gut um sie selbst gehen. Der Wähler hat das nicht vergessen, und, wichtiger noch, die Medien haben das nicht vergessen. Wenn also irgendein Engagement zu dem Thema erwähnt wird, dann ist es entweder von der Union (weil Regierung), Grüne/FDP (weil halbwegs glaubwürdig und koalitionsfähig) oder die Linke/Piraten (weil glaubwürdig, wenn auch politisch irrelevant).
Was die Sozialdemokraten tun könnten
Merkel zu dem Thema wirklich anzugreifen, wird also nicht klappen. Dafür ist die SPD nicht glaubwürdig genug. Sie kann mit Attacken wegen den Überwachungsprogrammen höchstens die eigene Wählerschaft mobilisieren.
Und genau darum geht es. Die CDU hat die asymmetrische Demobilisierung perfektioniert, also die Strategie, kontroverse Themen zu meiden und damit die gegnerische Anhängerschaft zu, naja, demobilisieren. Wenn die SPD-Anhängerschaft keine Angst vor Merkel hat, geht sie nicht wählen, so einfach ist das.
Jetzt gibt es aber einen Grund für die SPD, blöd gesagt, in ihre Erzählung Angst vor Merkel einzubauen. Anstatt eigene Qualitäten herauszustellen (“Wir werden Überwachung beenden”), was ihnen sowieso niemand glaubt, könnten die Sozialdemokraten aus der Geschichte eine Schwäche, einen Makel Merkels (blöde Alliteration) entwickeln. Und damit den Rest ihrer Anhängerschaft an die Wahlurne treiben, während sie mit anderen Themen aktiv Wähler umwerben.
Das hätte auch wunderbar geklappt, wenn ein ehemaliger Minister, Otto Schily, der SPD nicht in die Parade gefahren wäre. Nichts wirkt demobilisierender als Parteigranden, die sich gegen die eigene Partei aussprechen. Die einen ärgern sich über Uneinigkeit, die anderen merken, wie tief die SPD doch in allen Überwachungsskandalen mitdrinhängt.
Bei all dem Trubel merkt man es kaum noch, wenn der politische Gegner in Umfragen an einem vorbeizieht.