Ein Europa, Zwei Europas, Kein Europa?

Als 1951 die EGKS, ein Vorgänger der EU, gegründet wurde, wagte noch kaum jemand zu hoffen, dass es eines Tages eine so große, so stark vernetzte europäische Union geben würde. Die Motivation dafür war unterschiedlicher Natur – primär standen wirtschaftliche Interessen im Vordergrund, daneben war aber von vornherein ein Paneuropäischer Gedanke relevant, der die Jahrhunderte des Krieges in Europa beenden sollte und (vor allem) Westeurpa stabilisieren sollte.

Die ersten Europäer waren Pragmatiker ebenso wie Träumer – sie träumten von einem geeinten, friedlichen Europa, wussten aber, dass sie nur ein wirtschaftlich vielversprechendes, von außen bedrohtes und auf Zusammenarbeit ausgerichtetes Europa verwirklichen konnten. Es gab verschiedene Gründe für ein geeintes Europa; der Grund, warum es letztlich zustandekam, war nicht der Idealismus der sich als Europäer begreifenden europäischen Völker, sondern die rationale Kosten-Nutzen Abwägung der Europaskeptiker.

Zu jedem Zeitpunkt gab es aber, vor allem in Deutschland, Frankreich, Italien und den Benelux-Ländern, europafreundliche Eliten (mit der Ausnahme der Gaullisten), die ein Europa auch als Selbstzweck begriffen. Das waren durchaus sehr unterschiedliche Menschen; da waren die Patrioten, die dem starken, militanten Nationalismus ein Europa der Vaterländer entgegensetzen wollten, aber auch die Linken, die Europa als Antwort auf jede Form des Patriotismus und Nationalismus, als ersten Schritt zur Überwindung des Zeitalters des Nationalismus und zur Internationalisierung begriffen, die ersten echten Globalisierer gewissermaßen.

Und sie hatten Erfolg; weniger wegen ihren Idealen, und mehr wegen der praktischen Vorteile, aber es lief. Gerade weil Europa sehr stark durch Pragmatismus legitimiert werden musste, war es lange primär funktional, ohne eine echte politische Legitimität; erst mit der Einführung des Europaparlamentes und der Demokratisierung der europäischen Entscheidungsprozesse wurde der Bedarf nach direkter politischer Legitimität anerkannt.

Aber wo es Befürworter gab, musste es natürlich auch Gegener geben; schon de Gaulles Europa der Vaterländer war zwar nicht gegen ein Europa an sich gerichtet, es wollte aber die europäischen Kompetenzen minimieren. Das war die Angst der Patrioten in den späteren Jahren – dass eine Regierung aus Brüssel die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten unterlaufen könnte. Die “Vereinigten Staaten von Europa” waren für diese ein Schreckgespenst (während vor allem Liberale und Grüne dem positiv gegenüber standen). Die Linke war sich wie immer uneins; aus der Angst vor Nationalismus war nun Angst vor von oben herab verordnetem Kapitalismus geworden, manch einer teilte die Argumente der rechten Gegner.

Vor allem Deutschland nahm hier eine Sonderrolle ein; nach dem 2. WK war Europa natürlich ein Instrument der Westintegration, ein wichtiges Bollwerk gegen den Sozialismus, ein Trumpf gegen die DDR und der Hauptabsatzmarkt für die eigenen Produkte. Sogar Arbeitskräfte musste man in den 60ern aus Europa herschaffen. Und bei der Wiedervereinigung war Europa ein wichtiges Argument, um Ängste vor einem erstarkenden Deutschland zu widerlegen; die verstärkte Integration sollte nun auch Deutschland “zähmen”.

Auf der Identifikationsebene wird es erst richtig interessant; nachdem viele Deutsche Probleme damit hatten, dem Patriotismus zu frönen und sich als Deutsche zu begreifen, war Europa immer der positiv besetzte Gegenpol. Als Europäer begriff man sich sehr gerne, als Deutscher weniger (spätestens seit der Wiederveinigung geht der Trend aber in die entgegengesetzte Richtung). Und die Migranten aller Länder, die Italiener, Griechen, Türken in Deutschland, die Französischen Maghrebins, und viele andere, sie alle hatten oft Probleme damit, sich mit einem einzelnen Land zu identifizieren; ein abstrakteres Gebilde wie Europa bot da viel mehr Chancen.

Aber nicht alles lief gut. Jeder Idealist wollte so viele Staaten wie möglich in der EU haben – denn letztlich sollte ja ganz Europa vereinigt sein, je mehr Menschen sich mit diesem tollen Projekt identifizieren könnten, desto besser! Nur: Je mehr Staaten in die EU kamen, desto schwieriger wurde es, einen Konsens zu erreichen. Entscheidungen wurden verzögert, gelähmt, wenn nicht sogar unmöglich gemacht. Als bei der Abstimmung über eine EU Verfassung die Franzosen und Niederländer mit “Nein” stimmten, wurde deutlich, wie schwierig es geworden war, die EU zu legitimieren.

Zwar gab es Geldtransfers in strukturschwache Regionen (übrigens auch in Regionen Deutschlands, liebe “Wir zahlen uns dumm und dämlich”-Fraktion), aber das änderte nichts an der Skepsis der ärmeren Osteuropäischen Länder, die nach dem Zerfall der Sowjetunion noch begeistert waren von (West-)Europa.

Die Lösung vieler deutscher Konservativer lautete “Europa der 2 Geschwindigkeiten”. Soll heißen, Europa wird unterteilt in ein Kerneuropa und ein Randeuropa; ersteres wird sich immer schneller vernetzen und zu einer Art “Vereinigte Staaten von Europa” zusammenwachen, während letzteres sich erst langsam entwickeln soll und (hoffentlich!) nach und nach zu ersterem aufschließen wird.

Nein, schrien nun die überzeugten Europäer, das sei ja eine Perversion des europäischen Gedanken! Die europäische Integration würde bereits de facto in verschiedenen Schritten ablaufen, manche seien Teil der Union, andere Teil des Schengen Raums oder hätten den Euro eingeführt. Nun explizit ein Europa der zwei Geschwindigkeiten zu fordern würde dazu führen, dass die (reichen) Westeuropäischen Länder stark zusammenwachsen würden und irgendwann kein Interesse hätten, die zurückgebliebenen (und armen) Osteuropäischen Länder aufzunehmen, die das Tempo niemals würden aufholen können. Das wichtige bei dieser Argumentation: Politische Integration wurde parallel zu Wirtschaflichem Erfolg betrachtet.

Entsprechend ist ein Europa der zwei (oder auch mehr) Geschwindigkeiten bei einigen Verträgen Realität, aber es ist kein expolizites Modell für die politische Integration. Bis jetzt.

Nun kam die Eurokrise, und mit ihr der drohende Bankrott gleich mehrer europäischer Mitgliedsstaaten. Griechenland, Portugal, Spanien, Irland, Zypern, Italien, vielleicht sogar eines Tages Frankreich – wer als nächstes große Probleme haben wird, weiß niemand. Entsprechend groß ist die Verwirrung und Verunsicherung. Deutschland zahle sich dumm und dämlich, heißt es seit Monaten in allen Medien – und das, obwohl Deutschland bisher fast ausschließlich für Kredite gebürgt hat, die Verschuldungsrate sinkt und die Zinsen für seine Schulden auf einem historischen Tiefpunkt sind. Übrigens nicht unbedingt aufgrund konkreter Gründe – die Medien und der Markt vertrauen Deutschland halt.

Kein Wunder, dass da schon angekündigt wird, in Europa spreche man deutsch – auch wenn der Großteil der Entscheidungen nicht deutsche waren, sondern deutsch-französische. Paris-Berlin ist mal wieder zur Achse der Europäischen Integration geworden; dorthin schaut man, wenn man Zeichen finden will, wie es weitergehen soll, ob etwa eine erweiterte politische Integration stattfinden soll.

Nur: Wie soll das bitte gehen?

Das Europa der zwei Geschwindigkeiten ist ebensowenig neu wie Eurobonds, beide schwirren als Ideen seit Jahren umher. Es gab aber gute Gründe, sie nicht umzusetzen. Zum einem sind die derzeitigen Instrumente der EU kaum reformierbar. Nehmen wir einmal die EU-Kommission; 27 Länder gehören ihr an. Soll man, um schneller Entscheidungen zu treffen, eine Kommission der Euro-Länder einführen? Dann hätten wir eine Kern-Kommission und eine Kommission, die sich mit einem Ministerrat und einem Kernministerrat beraten dürfte und deren Beschlüsse von einem allgemeinen europäischen Parlament abgesegnet werden müssten. Oder will man die Bürger, die bereits bei einer EU-Wahl wenig Interesse zeigen, über ein Kerneuropäisches Parlament abstimmen lassen?

Es stimmt natürlich, dass etwa Cameron, ein Überzeigter EU-Gegner, wenig zu sagen hat, wenn es um europäische Integration geht. Jedenfalls, wenn er sich einbildet, dass die Achse Berlin-Paris einen dritten im Bunde benötigt der eigentlich gegen jede Integration ist.

Aber das heißt nicht, dass die restlichen EU Staaten, die noch keinen Euro eingeführt haben, ausgeschlossen werden können aus Entscheidungsprozessen. Wenn man sie aber nicht ausschließen kann, ist es unwahrscheinlich, dass es zu einer politischeren Union kommt als jetzt – denn sie haben weniger Interesse an einer solchen. Und wenn man sich darauf beschränkt, ein einziges, exekutives Organ zu schaffen für Kerneuropa, dann hat man das Problem, dass diesem die Legitimation fehlt – es sei denn, natürlich, dass es weiterhin dem EU-Parlament Rechenschaft schuldig ist, das weiterhin ein Parlament für ganz Europa bleiben wird und bleiben muss.

Was wir jetzt brauchen, ist keine Rhetorik über Kerneuropa, sondern ein geeintes Europa, das an einem Strang zieht. Oder eben deutsch-französische Achse, die Impulse setzt in der europäischen Politik. Denn sie ist vielleicht nicht demokratisch, aber funktional.

Natürlich wird Europa weiter zusammenwachsen, und natürlich wird die Finanzkrise einer der Gründe dafür sein. Nur, sich einzubilden, dass es jetzt Lawinenartig zu einer EU mit noch mehr politischen Kompetenzen kommen wird, ist naiv; die EU wird sich langsam entwickeln, das einzige, was die Finanzkrise dazu beitragen wird, ist, bei vielen das Bewusstsein zu schaffen für die Notwendigkeit Finanzpolitischer Absprache. Und damit könnte sich der allgemeine Integrationsprozess beschleunigen, auch wenn momenta natürlich der falsche Augenblick für eine erweiterung der Verträge ist.

In jedem Fall wird die EU gestärkt aus der Krise herausgehen, nicht wirtschaftlich, aber doch politisch.

 

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