Von der emanzipatorischen Kraft des Vulgären

Was haben Charlotte Roche, Rapper wie Frauenarzt und 68er gemeinsam? Sie alle lieben es, zu provozieren.

Provokation ist ein spannendes und stets aktuelles Thema. Ob sich nun ein Teenager die Haare rot färbt oder ob jemand ein Buch schreibt, dass die Grenzen der öffentlichen Toleranz erforscht – dem ganzen liegt die Freude an der Provokation. Provokation ist aber, anders als manche genervten Eltern von Teenagern behaupten würden, Selbstzweck; sie kann verschiedenste Funktionen haben, die durchaus Sinn machen und Song über Genitalien zu Kulturgut erheben können.

True story.

Fangen wir mal, ganz klassisch, mit der Frage an, was Provokation eigentlich ist. Provokation ist jede Aktion, die Konventionen bricht oder einen Bruch mit diesen zumindest andeutet und Gegenreaktionen heraufbeschwört, um nicht zu sagen, provoziert. Wer also provoziert, muss zunächst bestimmte Konventionen anerkennen, die er bricht.

Provokation ist nun ein sehr weites Feld; es gibt das Spiel mit der Provokation, die Kunst der Provokation, d.h. die Fähigkeit, Konventionen nicht radikal zu brechen, sondern einen solchen Bruch lediglich anzudeuten, damit zu spielen, dass das Gegenüber verunsichert ist. Unkonventionelles Verhalten kann durchaus als Charme ausgelegt werden, solange es sich in einem gewissen Rahmen bewegt.

Anders verhält es sich mit der Vulgarität; vulgär sind Dinge, die sich nicht nur gegen einzelne Konventionen richten, sondern elementare Regeln der Mehrheit brechen. Es ist etwa common sense, dass übermäßige Sexual- und/oder Fäkalsprache nicht angemessen ist; der massive Verstoß gegen dieses Gebot wird als vulgär wahrgenommen.

Nun haben Rebellion und Provokation sehr viel mit Emanzipation zu tun. Ob Frauenbewegung, Homosexuellenbewegung oder Minderheiten wie Juden und Schwarze in ihrem Kampf gegen Diskriminierung – sie alle bedienten sich dieser Mittel. Die Rebellion ist dabei das aktive; verschiedene Aktions- und Protestformen ebenso wie das ablehnen von alltäglichen Routinen fallen darunter. Wenn ich mich weigere, mich an die Sitzordnung im Bus zu halten, die Schwarze und Weiße trennt, dann ist das Rebellion; es ist aber, durch den Bruch der Konventionen, auch Provokation, beides geht ineinander über.

Dabei ist Provokation weniger im Bereich direkter Aktionen angesiedelt; es geht vielmehr um eine Waffe im Diskurs. Ich provoziere, um Gedankenkonstrukte zu durchbrechen. Besonders schön sichtbar wird das im Homosexuellenmilieu; der CSD war auch als Provokation gedacht. Man trägt nicht nur sein selbst stolz nach außen; man überzeichnet es, treibt es ins Extreme. Denn, so der Gedanke, nur das Extreme gewöhnt uns an das Ungewöhnliche im Alltäglichen.

Und von jemandem, der den eigenen Lebensstil noch vor einigen Jahren abschaffen wollte, lässt sich niemand gerne vorschreiben, welche Teile dieses Lebensstils öffentlich sein sollten. Die Provokation ist hier auch ein Schrei – seht her, ich bin da, ich besetze diesen öffentlichen Raum, ihre kriegt mich nicht weg, das ist mein von der Verfassung verbrieftes Recht. Ob es euch nun gefällt oder nicht.

In jeder Emanzipationsbewegung gibt es diese Phasen; die Rebellion, um Rechte durchzusetzen, die Provokation, um die Rechte akzeptabel zu machen durch Änderung des Diskurses und gleichzeitig das eigene Selbstbewusstsein zu festigen. Denn Niemand möchte Almosen der Mehrheitsgesellschaft annehmen, Jeder aber möchte seine Rechte innerhalb eines Staates gewahrt sehen.

Wichtig hier natürlich – findet eine solche Provokation “von unten nach oben” statt, dann ist sie direkt emanzipatorisch, findet sie dagegen “von oben nach unten” statt, dann ist sie unterdrückend und reaktionär.

Was passiert aber, wenn diese Mittel ausgereizt sind? Was, wenn Provokationen zum guten Ton gehören, wenn Mario Barth ebenso provoziert wie Thilo Sarrazin, und wenn jeder an diese Provokationen gewöhnt ist? Wenn das Unkonventionelle zum guten Ton gehört, dann verliert es seine emanzipatorische Kraft. Durch das Spiel mit dem Konventionsbruch wird dann eben nicht mehr aufgezeigt, wie festgefahren diese Konventionen sind; das Spiel gehört zu den Konventionen dazu.

Wenn ich nun aber immer noch die Weigerung wahrnehme, über bestimmte Themen zu sprechen, dann kann ich natürlich weiter über die gute alte Provokation vorgehen. Nur – anders als früher geht der emanzipatorische Charakter schneller unter im Meer aus auf Unterhaltung ausgerichteter Provokation. Und, so wie immer, dauert Provokation Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, bis sie Früchte trägt, d.h. nicht nur zum nachdenken anregt, sondern sich als neuer Diskurs festsetzt.

Um das also zu beschleunigen muss man immer extremer vorgehen. Man muss Konventionen nicht nur beugen, die weniger wichtigen brechen und damit spielen – nein, man muss einen möglichst radikalen Bruch mit dem als “normal” empfundenen anstreben. Das aber nennt man “vulgär”. Die zugrunde liegende Logik ist dieselbe; den Konventionsbruch dem Normalen entgegensetzen und damit den Rezipienten dazu bringen, darüber nachzudenken, mehr noch aber sich selbst befreien von dessen Vorstellungen. Denn wenn ich Konventionen breche, dann vor allem die der Rezipienten, und damit auch deren Macht auf mich über gesellschaftliche Normen, mich auf eine bestimmte Art zu verhalten.

Genau dieser Bruch aber sorgt für einen befreienden Effekt; ich löse mich aus dem Handlungszwang, der durch die Vorstellungen und Konventionen meines Gegenüber entsteht, indem ich durch Vulgarität eben diese breche.

Vulgarität schafft so Freiräume; sie wirkt unmittelbar emanzipatorisch.

Natürlich verletzt sie das Sittlichkeitsverständnis anderer; aber um diesen Aspekt soll es ja nicht gehen. Aus der Sicht desjenigen, der sich der Vulgarität als Stilmittel bedient, haben wir einen Emanzipationseffekt, der größer kaum sein kann. Und wenn die Vulgarität nicht geahndet wird, sondern Anlass eines eigenen Diskurses ist, dann wird ihre Rolle zementiert; nicht als etwas “Gutes”, wohlgemerkt, wohl aber als ein Teil unserer Öffentlichkeit und eine Kraft in jedem Emanzipationskonflikt.

Und allein die Tatsache, dass ein solcher Diskurs über Vulgarität stattfindet, ist Indikator für eine Gesellschaftliche Entwicklung; der Diskurs als Konventionsgeber wird hier betont, nicht die a priori zementierung dieser.

Aus diesem Grunde sollte man Vulgarität nicht prinzipiell verurteilen; sie erfüllt eine wichtige gesellschaftliche Rolle.

So, wem das jetzt zuviel Theorie war – Zeit für ein bisschen Musik und eine Einordnung dieser. Nehmen wir einmal Lady Bitch Ray.

Ähnlich wie etwa Frau Roche hat auch Lady Bitch Ray einige Menschen schockiert – extrem vulgäre, sexuelle Sprache, knappe outfits, exzentrische Auftritte, Beleidigungen – eigentlich alles nichts neues. Seit Jahren hört man das in der Musik – Gangsta Rap sei Dank. Aber etwas ist doch neu. Etwa dass sie an einer Universität arbeitet? Nicht wirklich.

Bei weitem nicht jeder Rapper (oder sonstiger sexistischer Musiker; ja, das ist Genreübergreifend vorhanden) stammt aus ungebildeten Verhältnissen. Im Gegenteil, man einer muss sich von seiner Bildung distanzieren um dem Image nicht zu schaden.

Viel schwerer wiegt etwas viel banaleres: Das Geschlecht. Wenn ein Mann über “Fotzen, Muschis” und ähnliches redet, dann spricht er aus einer (vermeintlichen?) Machtposition. Eine Frau dagegen, die dasselbe tut, hat die entgegengesetzte Position – sie widerspricht gängigen Vorstellungen, Konventionen und Gebräuchen, sie emanzipiert sich von diesen. Um es also extrem zu formulieren – man muss Lady Bitch Ray nicht mögen, aber wir brauchen eine Frau, die über Fotzen singt. Sonst herrscht keine echte Gleichberechtigung.

Spreche ich gerade männlichen Rappern ihre gesellschaftliche Rolle ab? Auf keinen Fall! Wortwahl, Thematiken und Techniken haben viel zu verschiedenen Gleichberechtigungsbewegungen beigetragen, ob es nun um diverse Minderheiten oder Arme geht. Sogar revolutionär war Rap teilweise. Dazu bediente er sich eines weiten Spektrums an Tabubrüchen; oft genug aber schaffte er den Sprung ins Vulgäre. Nur eines, das konnte er nie – Frauen gleichberechtigen. Jedenfalls nicht in Deutschland.

 

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