Der arabische Frühling ist ein arabisches Erwachen

Ein Thema hat das Jahr 2011 geprägt wie kein anderes: die Demokratiebewegungen im Nahen Osten. Die unerwarteten und radikalen Erhebungen in den als am verkrustetsten und am starrsten wahrgenommenen Gesellschaften der Welt – jedenfalls aus europäischer und auch amerikanischer Sicht. Monate ist der Anfang dieser Proteste nun schon her, die meisten der Bewegungen sind bereits an ihrem Zenit angelangt – Zeit also für ein Resumee.

Am 17. Dezember 2010 verbrannte sich Mohamed Bouazizi selbst. Die Folge waren Massenproteste, die den Tunesischen Machthaber Ben Ali aus dem Land vertrieben; gleichzeitig schwappten die Proteste erst in die Länder des Maghreb und dann in sämtliche arabischen Länder über. Was nun folgte, erinnerte an den Zerfall der Sowjetunion; ein Machthaber nach dem anderen musste abdanken, die Proteste blieben lange Zeit (nahezu) gewaltfrei. Erst mit dem Bürgerkrieg in Libyen wurde Gewalt im Kontext der Proteste wirklich bekannt; es blieb aber nicht die einzige Eskalation, in Bahrain, Syrien und auf dem Iran etwa wurden Proteste mehr oder weniger blutig niedergeschlagen. In der Öffentlichkeit hielt sich aber sehr lange das Bild von friedlichen, erfolgreichen Protesten; der Maghreb dominierte die Berichterstattung, und dort vor allem Tunesien und später Ägypten.

Eine neue, demokratische Ära wurde in Europa gesehen; eine Ära, in der es, analog zum Fall des eisernen Vorhangs, schlagartig neue Demokratien gäbe. Präsident Obama ging in mehreren Reden auf diese Vorstellung ein; Amerika, so der Grundtenor, müsse den bald entstehenden jungen Demokratien die Hand reichen, sie leiten. Schließlich, so stets der implizite Gedanke, habe dies schon einmal geklappt.

Aber lassen sich die arabischen Protestbewegungen überhaupt mit dem Fall des eisernen Vorhangs vergleichen?

Die Parallelen sind Eindeutig; in beiden Fällen sah es niemand kommen, in beiden Fällen gingen Menschen in starren Diktaturen von einem Tag auf den anderen auf die Straße, in beiden Fällen waren materielle Forderungen ein großer Katalysator der Unruhe, in beiden Fällen liefen die Proteste weitestgehend friedlich ab, in beiden Fällen gab es große Erfolge.

Zumindest Anfangs.

Hier enden allerdings die Parallelen – es gibt auch einige gewichtige Unterschiede, die den Erfolg der arabischen Proteste maßgeblich beeinflussen werden.

Erstens sind die arabischen Proteste nicht nur ebenso dezentral/national organisiert wie die in den Sowjetrepubliken, sie sind, anders als dort, auch gegen dezentral/nationale Machthaber gerichtet. Während sich in den ehemaligen kommunistischen Staaten nationale Protestbewegungen gegen eine weitestgehend zentralistische Diktatur erhoben (die ihren lokalen Marionetten urplötzlich ihren Schutz versagte und sie damit weitestgehend stehen ließ), erheben sich in den arabischen Staaten nationale Protestbewegungen gegen nationale Machhaber, die sämtliche Mittel und Wege haben, den Kampf gegen diese aufzunehmen. In manchen Fällen, wie etwa in Tunesien oder Ägypten, mögen diese Machthaber eine weniger stabile Basis oder gar mehr Skrupel als andere haben; prinzipiell haben sie allerdings eine bessere Basis für eine Unterdrückung der Proteste als in den ehemaligen kommunistischen Staaten.

Zweitens stehen den arabischen Ländern keine europäischen Nachbarn nahe, die sie mit massiven Finanzhilfen unterstützen können. In Tunesien und Ägypten etwa wurde klar gemacht, dass Europa keine massive Unterstützung leisten kann; die Proteste aber wurden von wirtschaftlichen Nöten angetrieben. Zwar wurden Gelder der ehemaligen Machthaber eingefroren; diese reichen aber weder für ein massives Wirtschaftsprogramm, wie es nötig wäre für günstigere Lebensmittelpreise und/oder eine geringere Arbeitslosigkeitsrate, noch reichen sie für den Aufbau demokratischer Institutionen, deren Kosten man nicht unterschätzen darf. Allein der Umbau und Aufbau neuer Ministerien dürfte Unsummen verschlingen; dazu kommen die Kosten von Wahlen, Bildungsprogrammen, Verwaltungskosten. Kurz, alles was eine Demokratie braucht und was vor allem ein neuer Staat braucht der nicht alte Institutionen 1 zu 1 übernehmen will.

Drittens ist das Militär in den meisten arabischen Staaten deutlich präsenter als das in den ehemaligen Sowjetrepubliken der Fall war. Sind sie hier auf lokale Diktatoren eingeschworen, waren sie dort meist der Roten Armee verbunden; als diese aber nicht reagierte, konnte das Militär das entstehende Machtvakuum nicht als eigenständiger Akteur füllen, da es nach Russland blickte. In den arabischen Staaten dagegen agierte das Militär zum Teil schon immer autonom; es genoss Freiheiten, die es sich kaum wird nehmen lassen, und wird so als politischer Akteur stets eine Rolle spielen, in manchen Ländern mehr, in anderen weniger. Die ersten Signale in diese Richtung kann man bereits in Ägypten sehen.

Viertens gehen politisches und sozio-ökonomisches System in den arabischen Staaten viel weiter auseinander als in den kommunistischen Staaten. Hatte man damals ähnliche politische Systeme bei ähnlichen Bevölkerungszusammensetzungen, so hat man in den arabischen Staaten von Agrarstaaten über Industrie-, Dienstleistungs- und Ölnationen alles versammelt was es gibt. Dazu kommen zwar generell recht junge Gesellschaften, die aber über sehr unterschiedlichen Wohlstands- und Bildungsniveaus verfügen. Auch sind Urbanisierungsgrad, Mobilität und Zugänglichkeit von Information Faktoren, die stark auseinandergehen. Und, zu guter letzt, unterscheiden sich die politischen Systeme; zwischen semi-demokratischen, recht säkulären Staaten und theokratischen Diktaturen findet sich alles. Dass da Aussagen über einen Staat kaum verallgemeinerbar sind über die anderen, dürfte klar sein; zuletzt hat sich dies im Falle Algeriens gezeigt, das zwar große Ähnlichkeiten zu Tunesien und Ägypten aufweist, das aber eine weit weniger erfolgreiche Protestbewegung hervorgebracht hat.

Nimmt man diese Faktoren zusammen, dann kann man kaum von einer ähnlichen Entwickling wie beim Fall des Eisernen Vorhangs ausgehen; die meisten Parallelen werden trivialisiert. Letztlich wird es kaum eine breite, erfolgreiche Demokratisierung geben wie in Osteuropa; die arabischen Protestbewegungen werden, wo sie erfolgreich waren, einen harten Kampf um Demokratie ausfechten müssen. Wo sie weniger erfolgreich waren, wird er eventuell erstickt werden.

Wie aber soll man diese Proteste Charakterisieren?

Ein populärer Vorschlag ist die französische Revolution. Auch wenn sie keine unmittelbare Demokratie brachte; sie setzte den Beginn einer Reihe von Massenprotesten in ganz Europa und führte auf lange Sicht zu Demokratie und Aufklärung. Dem sei aber entgegengesetzt, dass die französische Revolution eine einzelne Revolution war und keine Bewegung in ganz Europa; diese Revolten werden eher als aufkommen des Nationalismus bezeichnet. Auch hat sie sich unter anderem durch einen imperialistischen Krieg Napoleons und zwei Weltkriege verbreitet; beides scheint aber unrealistisch im Nahen Osten. Eine historische Parallele sollte man meiden; sie sind stets nur in bestimmten Aspekten zutreffend, in anderen dagegen nahezu lächerlich.

Wenn sie aber keine dauerhafte und breite Demokratie bringen, was ist dann ihr Effekt?

Zunächst einmal befand sich die islamische Welt, mehr aber noch die arabische Welt, seit Jahrhunderten in einer Phase des Stillstands. Die wichtige Frage unter islamischen Gelehrten über die Rückständigkeit des Nahen und Mittleren Ostens lässt sich zu einem Gutteil mit der Lethargie der arabischen Völker beantworten; während in der Türkei, im Iran, ja sogar in Indien und Afghanistan Revolutionen Erfolge erzielen konnten, waren die letzten wirklich erfolgreichen Revolutionen der arabischen Welt die anti-kolonialen, die zu neuen Diktatoren führten, mit denen man sich dann arangierte.

Diese kontrollierten dann mit einem Militärapparat, Geldern und Geschenken sowie westlicher (oder auch sowjetischer) Unterstützung ganze Gesellschaften, die sich mit ihren Diktatoren arrangierten. Zensur bei kleinen Freiheiten führte zu einem Verkümmern der Zivilgesellschaften; es ist bezeichnend, dass eine radikal-orthodoxe Organisation wie die Muslimbrüder eine der größten zivilgesellschaftlichen Gruppen der arabischen Welt darstellt (woraus sie auch einen Großteil ihrer Legitimation ableitete). Intellektuelle und Säkuläre dagegen arrangierten sich mit den Regimen; später taten dies dann auch zunehmend Islamisten.

Eine geistige und gesellschaftliche Lähmung war die Folge; der arabischen Welt ging in den letzten hundert Jahren ihre Vorreiterrolle auch in der muslimischen Welt verloren, nur in religiösen Fragen konnte sie dies einigermaßen halten. Antworten auf Fragen kamen aus dem Iran, der Türkei, Indien oder sogar Europa. Die eigenen Intellektuellen gingen oftmals ins Exil – in diese Länder.

Nun aber wird man sich die Demokratie vielleicht nehmen lassen; die neu entdeckten Freiräume aber nicht. Die Gesellschaft hat sich in kurzer Zeit stark modernisiert; sie hat an Selbstbewusstsein, an Stolz gewonnen. Zivile Gruppen haben sich gebildet, die sich nun ihrer Macht bewusst sind. Die Iraner schauen neidisch zu, während die Araber zum ersten Mal seit hundert Jahren weiter sind in zivilesellschaftlicher Entwicklung. Die Türken sind überrascht und müssen sich mit neuen Kräften arrangieren. Und Israel ist verunsichert, denn die arabischen Staaten sind weniger von innen gelähmt und könnten eine ernst zu nehmende Gefahr darstellen.

Die Generation von 2011 wird, anders als ihre Eltern, nicht nur einige wenige intellektuelle Stimmen haben; sie ist vielfältig, selbstbewusst und aktiv. Wir werden vielleicht keine Schwemme an Demokratien erleben; eine Schwemme an Kultur aber wird folgen, Autoren, Maler, junge Künstler die selbstständig denken, die eine Freunde am Bruch mit Konventionen erlebt haben. Und, vor allem, eine Generation die das lamentieren über bessere Zeiten verlernt; eine Generation, die für bessere Zeiten kämpft.

Die arabische Welt und vor allem der Maghreb haben den ersten Schritt gemacht, eine Vorreiterrolle für die geamte islamische Welt einzunehmen und intellektuell wieder zu einem Knotenpunkt der Welt zu werden. Hoffen wir, dass zumindest dies von Erfolg gekrönt sein wird.

Die arabische Welt – sie ist erwacht. Auf dass sie niemals wieder schlafen möge!

 

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2 thoughts on “Der arabische Frühling ist ein arabisches Erwachen”

Juhu! Jemand, der nicht bei facebook kommentiert! Oldschool!