Die Franzosen haben generell ein Problem mit Kritik an der “grande nation”. Keine neue Erkenntnis – egal, ob es um den Kolonialismus oder um Nazi-Kollaborateure ging, man schwieg lieber dazu. Ein etwas moderneres „Problem“ ist allerdings das Massaker an der Seine, eines der schlimmsten Massaker in den industrialisierten Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg. Gestern jährte sich dieses Massaker zum 48. Mal – eine Aufarbeitung ist aber höchstens zu erahnen.
Fangen wir mit der Vorgeschichte an – Algerien wurde 1830 von den Franzosen angegriffen, spätestens seit 1847 gehörte es dann auch zu Frankreich und wurde im Laufe der Zeit als Teil des französischen Kernlandes begriffen. Dabei spielten die Siedler eine große Rolle; wegen ihnen entstand allerdings auch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, die man auch wunderbar in Camus Werk “L’Étranger” erahnen kann. Das Massaker von Sétif markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Algerien – zwar hatten zuvor Algerier sogar in der französischen Armee gedient und waren teilweise recht loyal Frankreich gegenüber, die wurde aber ins Gegenteil gekehrt, nachdem die Franzosen auf Unruhen in Algerien mit brutaler Gewalt reagierten. Ingesamt sollen zehntausende von Algeriern getötet worden sein – etwas, das viele der algerischen Weltkriegsveteranen dazu trieb, die Unabhängigkeit Algeriens vorranzutreiben. 1947 wurde zwar allen Algeriern die französische Staatsbürgerschaft verliehen, zu diesem Zeitpunkt war es aber bereits zu spät, und so fing der algerische Unabhängigkeitskrieg zumindest offziell ab 1954 an.
Während des Krieges machten vor allem die französischen Atomtests in der Sahara, die ohne Rücksicht auf die Bevölkerung stattfanden, und die erst vor kurzem von Frankreich eingestanden wurden (Entschädigungen blieben allerdings weitestgehend aus) sowie die “Fußballdiplomatie” Algeriens, zu der ich leider den Artikel nicht mehr finde. Darüber hinaus wurde auch die im Krieg eingesetzte, sogenannte “französische Doktrin” weltberühmt, denn diese Taktik beinhaltete massivste Repressionen gegen die Zivilbevölkerung und wurde “exportiert”. 1961 dann war es beinahe soweit, die französische Bevölkerung wollte den Krieg beendet sehen, die algerische schon lange; die Lage beschrieb die taz in einem Artikel von 2001 folgendermaßen:
Man befand sich in der blutigen Endphase des offiziell 1954 begonnenen Algerienkrieges. Auch in der “Metropole” war die Stimmung bis aufs Äußerste gespannt. Immer häufiger kamen Särge mit gefallenen jungen Franzosen aus Nordafrika zurück. Die Attentate der rechtsextremen OAS, die für den Fortbestand des “französischen Algerien” kämpfte, griffen auf das Mutterland über. Mitten in Paris wurden beinahe täglich Leichen von Algeriern gefunden. Seit Anfang August waren auch über 30 französische Polizisten ermordet worden. Im Gegenzug hatte Polizeipräfekt Maurice Papon seinen Männern einen Blankoscheck erteilt: “Für jeden Schlag gegen uns schlagen wir zehn Mal zurück.”
In dieser angespannten Lage sollte nun eine, nicht genehmigte, Demonstration von Algeriern stattfinden; das, nachdem es lange eine Ausgangssperre für Algerier gegeben hatte.
Die Nacht vor 40 Jahren war das blutigste Ereignis im Paris der Nachkriegszeit, eines der bestgehüteten Geheimnisse der französischen Republik. An jenem 17. Oktober waren 30.000 Algerier einem Aufruf der algerischen Befreiungsfront FLN, die in der Diaspora Geld für den Unabhängigkeitskampf sammelte und großen Einfluss hatte, gefolgt. Sie wollten sternförmig von ihren Vorstadtsiedlungen aus in Richtung Stadtmitte gegen das nächtliche Ausgehverbot für “französische Muslime” demonstrieren. Manche hatten ihre Familien mitgebracht, viele ihre Sonntagskleidung angezogen. Es sollte eine Veranstaltung des guten Willens werden.
Das Ende der Veranstaltung war brutal; einige hundert Algerier wurden umgebracht, offiziell gab Frankreich allerdings nur einige wenige Tote zu, und der Hauptverantwortliche, Maurice Papon, durfte einige Jahrzehnte weiter Karriere machen bis seine Vichy-Vergangenheit aufgedeckt wurde. Dazu die taz weiter:
Dass an jenem Herbstabend des Jahres 1961 französische Polizisten mitten in Paris tausende von friedlichen Demonstranten misshandelt und wahrscheinlich hunderte von Menschen ermordeten, erfuhr die Öffentlichkeit nicht. Kein einziges Medium berichtete darüber, dass in der Seine Leichen schwammen und die Täter französische Uniformen trugen. Aus der Polizeipräfektur verlautete lediglich, es habe in der fraglichen Nacht zwei Tote gegeben – Opfer von Auseinandersetzungen unter “muslimischen Franzosen”.
Ein paar Meter von der Präfektur entfernt findet heute Vormittag auf der Brücke von Saint Michel, von wo furchtbar zugerichtete Menschen in den Fluss gestoßen wurden, der erste offizielle Gedenkakt statt. 40 Jahre nach dem Massaker, dessen Opfer nie gezählt werden konnten, weil die Archive verschlossen oder vernichtet sind, wird der sozialdemokratische Bürgermeister von Paris eine Tafel anbringen. “Zur Erinnerung an die Algerier, die Opfer der blutigen Unterdrückung einer friedlichen Demonstration wurden”, steht darauf. Der Text ist ein Kompromiss. Das Wort “Mord” sucht man vergebens. Auch der Hinweis auf die Verantwortlichen in Polizei, Justiz und Regierung fehlt.
[…]
Fast alle Fotos der Gewaltszenen verschwanden, die Vorführung eines Films von Jacques Panijel wurde verboten, und das Blatt France Observateur, das Polizisten zitierte, die von über 50 Leichen im Innenhof der Polizeipräfektur berichteten, bekam eine Verleumdungsklage verpasst.
2005 berichtete die Netzzeitung über konservative Abgeordnete:
Zu später Stunde brachten sie einen Gesetzespassus durch die fast leere Nationalversammlung, der den Lehrern vorschreibt, im Unterricht «die positive Rolle» Frankreichs in Nordafrika hervorzuheben. Das Zweifeln an der Grande Nation, die den Barbaren Kultur und Zivilisation bringt, sollte ein Ende haben.
Die verdeutlichte vor allem eine Spaltung in der Bevölkerung; währenddessen gab es nämlich protestierende Historiker und Lehrer. Darauf wurde wie folgt reagiert:
Entnervt versichert Kulturminister Gilles de Robien jetzt den Lehrern, sie könnten den Kolonialismus frei darstellen. Das neue Gesetz ändere überhaupt nichts. Außenminister Philippe Douste-Blazy schlug Algerien vor, nach deutsch-polnischem Vorbild eine gemeinsame Historikerkommission zu bilden. Sie könnte auch die Folterungen und Massaker auf beiden Seiten aufklären – und die Frage, ob es nun 1,5 Millionen Tote gab, wie Algerien behauptet, oder nur 200.000, wie General Charles de Gaulle angab.
Doch was die Algerier denken, ist den meisten Franzosen egal. Der «Kampf um die Geschichte» ist ein innerfranzösischer Kampf. Die Harkis – Algerier, die für Frankreich gekämpft hatten – fordern moralische Anerkennung. Anhänger der Untergrundarmee OAS, die mit Terroranschlägen die Kolonialherrschaft über Algerien sichern wollten, streiten für ihre Vorstellung von Ehre. So ehrten im Juli 600 OAS-Veteranen die Männer, die 1962 nach einem Attentat auf Staatschef General de Gaulle hingerichtet worden waren.
Auf der anderen Seite fühlen sich viele Einwandererkinder nicht als vollwertige Franzosen, sondern als späte Opfer des Kolonialismus. Und ihre Zahl wächst rasant mit der Diskussion um den radikalen Islam.
Manchmal muss man sich eben an solche Dinge erinnern, so schmerzhaft das auch sein mag. Frankreich braucht eine Aufarbeitung seiner Geschichte, und eine offizielle Entschuldigung für die Verbrechen, die im Verlauf des Algerienkrieges begangen wurden, wäre zumindest ein Anfang. Noch wichtiger wäre aber eine Klärung der Fakten – immerhin geben die Franzosen auch heute noch 300.000 Algerische Opfer an, während die FLN allein von 350.000 gefallenen Algerischen Kombattanten spricht und von 1,5 Mio gefallenen Algeriern. Und sind nun 200 oder 300 Menschen in Paris gestorben? Wieviele wurden inhaftiert, ausgewiesen, misshandelt? Bis dies alles nicht geklärt ist, reiht sich Frankreich diesbezüglich in eine Reihe mit menschenverachtenden Diktaturen ein.