Die politische und wissenschaftliche Disziplin der Public Health artikuliert in der letzten Zeit auch in Deutschland und Europa vernehmlicher ihre Thesen, Forderungen, Vorschläge für die öffentliche und private Gesundheitsversorgung. Sie hat mehr Aufmerksamkeit und Ressourcenzuteilung in den letzten Jahren erfahren, als in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Zeit des Nationalsozialismus und des europäischen Faschismus war der Missbrauch der öffentlichen Gesundheitsfürsorge zu Zwecken der Eugenik und insgesamt völkischen Ideologie ein Verbrechen und eine Verletzung der Menschenrechte, die durch einige Arbeit und Abgrenzung zu den Fehlern und Grausamkeiten dieser Zeit wieder entfernt werden musste und konnte.
Der institutionelle Rahmen der Europäischen Union eignet sich sehr für eine überregionale Analyse gesundheitsrelevanter Aspekte des Lebens und sich daraus ergebender politischer Maßnahmen. Der Diskurs der europäischen Public Health ist bereits an diesem Punkt angekommen praktisch europaweite Maßnahmen zu ergreifen. Die Gründung und Entwicklung von Institutionen wie dem ECDC (European Center for Diseseas Control) in Brüssel1 und die zunehmende Bedeutung europäischer Ärztevereinigungen wie der Conseil Permanent des Medecins Européens2 sind Zeichen dieser Entwicklung.
Das Menschenrecht auf Gesundheit kann nur in einer irgendwie verwalteten Form der Zuteilung und Organisation verwirklicht werden. Außerdem werden die Menschenrechte vor allem gegenüber der staatlichen Gewalt beansprucht. Somit entspringt der Diskurs der Public Health aus den Forderungen und Ansprüchen des Menschenrechts auf Gesundheit3. Die Rechtfertigung der Public Health entspringt vor allem aus diesem einen Menschenrecht. Die einzelnen Äste moderner Themen der Public Health sind die äußerstesten Differenzierungen grundlegender Gesundheitsrechte und staatlicher Pflichten zur Erfüllung dieser Rechte. Die gegenwärtige Public Health beschäftigt sich vor allem mit spezifischen und weit entwickelten Themen, im Weiteren möchte ich auf die Grundlage dieses Diskurses eingehen.
Es ist schon alleine erstaunlich, das in moderner Literatur über das Menschenrecht auf Gesundheit oft nur auf ein „Recht auf Gesundheit“ Bezug genommen wird. Würde man den Ursprung dieses Rechtsprinzips beachten, müsste stets vom „Menschenrecht auf Gesundheit“ die Rede sein. Dies ist präziser und relevant, weil ansonsten die Bedeutung dieses Menschenrechts gegenüber anderen Menschenrechten relativiert wird und einfach vergessen wird, dass es sich um ein Menschenrecht handelt.5 Ein bewussterer terminologischer Umgang mit diesen Begriff würde das Bewusstsein wach halten und die Terminologie nicht mit lediglich einer kurzen Vorsilbe verkomplizieren, sondern automatisch Klarheit über die Bedeutung dieses Menschenrechts schaffen.
Die internationalen Abkommen, die das Menschenrecht auf Gesundheit abdecken, sind größtenteils sogenanntes soft law („weiche Gesetze“) und die internationalen Klage- und Sanktionsmechanismen sind recht schwach ausgeprägt3, wie es bei den meisten sogenannten WSK-Menschenrechten (wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte) der Fall ist. Dies wird der Bedeutung dieses Menschenrechts nicht gerecht.
Public Health befasst sich mit Versorgungsfragen, die Menschenrechtsfragen sind. Im geführten Diskurs wird diese Verbindung nicht routiniert vorgenommen. Es werden andere Schwerpunkte gesetzt und die dafür vorhandene Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.
Wie in jedem wissenschaftlichen Bereich, vor allen den politisch aufmerksam beobachteten, finden sich populäre und unpopuläre Themen. Die öffentliche Kontrolle des Tabakkonsums ist eines der weichen und öffentlich gut steuerbaren Themen gewesen, das die Gemüter erregte und immer noch erregt. Viele Ziele wurden erreicht, der Tabakkonsum geächtet und die Erkentnisse der Schädlichkeit allen Tabakkonsums allgemein bekannt. Ebenso populär sind die vielen Formen von Ernährungs- und Alkoholkampagnen, Impfprojekte und Drogenlegalisierungprogramme mit daran gekoppelten Sozialprogrammen. Public Health, das sich in der deutschen, wörtlichen Übersetzung als „öffentliche Gesundheit“ schon gar nicht so schick anhört, umfasst aber mehr als Jod im Trinkwasser und das Design von Zigarettenschachteln.
Die Strukturierung und der Aufbau grundsätzlicher Gesundheitsversorgung in Ländern ohne entwickeltes Gesundheitssystem und vor allem ohne die notwendigen finanziellen Ressourcen für relevante öffentliche Gesundheitsfürsorge sind ebenfalls das Thema öffentlicher Gesundheit. Solche Problematiken sind die grundlegenden und elementaren Betätigungsfelder der öffentlichen Gesundheitsfürsorge. Antitabak-Kampagnen hingegen sind im Verhältnis dazu ein spezielles Thema.
Public Health nur auf westliche Fragen und Räume zu beziehen definiert dieses Feld als eine Art politisches Thema, das sich sehr abstrakt und im großen Stil mit sehr isolierten Fachfragen auseinandersetzt. Schwellen- und Entwicklungsländer werden in den beliebten Themen des Diskurses vor allem mit Lösungen zu saisonalen Grippeepidemien, zur Tuberkulose- und AIDS-Epidemie bedacht.
In der öffentlichen Wahrnehmung scheinen die absolut basalen Versorgungsfragen dann nur in die Sektion „Entwicklungshilfe“ und „medizinische Nothilfe“ zu fallen, wie sie von Ärzte ohne Grenzen e.V., medica mondiale, dem Roten Kreuz, handicap international usw. durchgeführt werden. Von einem Schreibtisch sind die lokalen Verzahnungen und Wirkungen der Akteure, seien es die Impfteams der WHO, die Spezialisten von UNAIDS oder die mobilen Praxiszelte der Helfer_innen im Feld, sehr schwer zu beurteilen. Der gegenwärtige Diskurs über öffentliche Gesundheit lässt sich schon eher bewerten.
Es existiert eine Vielzahl von Programmen, die strukturiert und kraftvoll weltweit das Menschenrecht auf Gesundheit durchsetzen, ohne dass diese Verbindung hergestellt. Das Menschenrecht auf Gesundheit ist der Bewegunggrund von so vielen Akteuren rund um den Globus. Ohne dass diese Feststellung viel an der tatsächlichen Arbeit ändert, ist es wichtig zu betonen, dass diese Hilfen sehr oft im Geist des Menschenrechts auf Gesundheit erfolgen. Das Menschenrecht auf Gesundheit ist ein wichtiges und relevantes Menschenrecht. Jedem, der sich mit dem Menschenrecht auf Gesundheit beschäftigt und für seine Durchsetzung kämpft, sollte wissen, von welcher Tragweite und Aktualität dieses Menschenrecht ist.
Schon in einigen Ländern der Europäischen Union ist die öffentliche Gesundheitsfürsorge deutlich mangelhaft, was durch die Finanzierungsengpässe in den Staatshaushalten während der europäischen Wirtschaftskrise der Zehner Jahre verschärft wurde4.
Der Menschenrechtsdiskurs scheint sich nur um als „menschenrechtlich“ bekannte Themen wie Todesstrafe, Folter und Meinungsfreiheit zu drehen, obwohl das Menschenrecht auf Gesundheit in so vielen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit und Politik das Agens ist. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die einzelnen Menschenrechte keine unterschiedliche schwere und Bedeutung haben. Menschenrechte sind als elementar und unteilbar definiert. Kein Menschenrecht muss um Aufmerksamkeit kämpfen, sondern formuliert eine notwendig zu erfüllende Forderung an den Staat und die Gesellschaft des einzelnen Landes bzw. Rechtsraumes.
Die internationalen Rechtsschriften, auf die wir uns bei der Verteidigung des Rechts auf Gesundheit berufen können, sind die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (AEdM), aus der sich dann der Sozialpakt der United Nations (UN) abgeleitet hat und in dessen Generalkommentar Nr. 14 das „Recht zur höchsten verfügbaren Gesundheitsstandard“ durch das Komitee für ökonomische, soziale und kulturelle Rechte des Ökonomischen und Sozialen Rates der UN präzisiert wurde. Artikel 12.1 des Sozialpakts definiert das Recht auf Gesundheit; Artikel 12.2 zählt die staatlichen Verpflichtung zur Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit gegenüber seiner Bevölkerung auf.3
Der zweite Punkt des Generalkommentars Nr. 14 zählt die relevanten anderen Abkommen auf, die Aspekte des Rechts auf Gesundheit verbindlich näher bestimmen. Der dritte Punkt erwähnt die engeren Interpendenzen zwischen dem Recht auf Gesundheit und anderen Menschenrechten.
Hier ist zunächst wichtig, dass der Sozialpakt im Gegensatz zur Weltgesundheitsorganisation Gesundheit nicht als „einen Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlergehens“ definiert, sondern als „den höchsten erreichbaren Standard physischer und geistiger Gesundheit“. Dies entspricht der Intention des vorliegenden Textes, da festgestellt werden soll, welche menschenrechtlichen Forderungen sich als erstes aus dem Recht auf Gesundheit praktisch ergeben. Die Weltgesundheitsorganisation hat selbst diesen Unterschied erkannt und die stufenweise Umsetzung des Rechts auf Gesundheit unter anderem in seinen Weltgesundheitsberichten beschrieben.6 Der Sozialpakt spricht nicht von sozialer Gesundheit, die aber aus einem Streben nach körperlicher und vor allem geistiger Gesundheit resultiert.
Der Generalkommentar interpretiert das Recht auf Gesundheit so weit, dass auch nicht direkt mit medizinischer Versorgung verbundene Aspekte zum Bestandteil der Gewährung des Rechts auf Gesundheit gehören. So beschreibt er als naheliegendes Recht auf Gesundheit sehr grob die zeitnahe und angemessene medizinische Versorgung. Als erweiterte Forderungen an Staat und Gesellschaft sieht der Ökonomische und Soziale Rat der UN die zugrundeliegenden Determinanten der Gesundheit („underlying determinants of health“, elfter Punkt) wie der Zugang zu sicherem und trinkbarem Wasser, angemessene Sanitäranlagen, eine angemessene Versorgung mit sicherem Essen und Wohnen, gesunde Arbeits- und Umweltverhältnisse, Zugang zu Gesundheitsbildung und –informationen inklusive sexueller und reproduktiver Gesundheit.
Qualitativ definiert der Kommentar dann folgende Kriterien für die Erfüllung des Rechts auf Gesundheit: Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Annehmbarkeit, Qualität. Gerade diese sehr abstrakten Größen wurden in der relevanten Menschenrechtsliteratur und vor allem in den Texten der WHO ausführlich ausgearbeitet und weiterentwickelt.
Wichtig für das Interesse an den primären Zielen, die sich aus dem Menschenrecht auf Gesundheit ergeben, sind die ab Punkt 43 erläuterten Kernverpflichtungen beim Erfüllen des Rechts auf Gesundheit im Generalkommentar Nr. 14. Hier setzt der Kommentar des ökonomischen und sozialen Rats der UN klare Prioritäten:
– Den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen, -gütern und -diensten ohne Diskriminierung zu ermöglichen, vor allem für gefährdete oder marginalisierte Gruppen,
– Den Zugang zum Minimum an essentiellen Essen ermöglichen, das ernährungstechnisch adäquat und sicher ist, um Hunger für jeden zu vermeiden,
– Den Zugang zu grundlegender Unterkunft und Sanitäranlagen zu ermöglichen, sowie einen adäquaten Vorrat an sicheren und trinkbaren Wasser,
– Die Versorgung mit den essentiellen Medikamenten, wie im „WHO Action Programme on Essential Drugs“ aktuell definiert7,
– Die gerechte Verteilung aller Gesundheitseinrichtungen, – güter und –dienste zu gewährleisten,
– Die Entwicklung und Umsetzung einer nationalen Strategie der öffentlichen Gesundheitsfürsorge („national public health strategy and plan of action“) auf der Basis epidemiologischer Evidenz, die die Gesundheitsbedürfnisse des gesamten Bevölkerung erfasst.
Im letzten Punkt hat der Generalkommentar explizit die Verbindung vom Menschenrecht auf Gesundheit zur Public Health hergestellt.
Der o.g. Rat der UN stellt diesen Kernverpflichtungen die Forderungen nach der Umsetzung einer Versorgung nach dem Prinzip der „primären Gesundheitsversorgung“ (primary health care) voran, deren Grundrisse in der Deklaration von Alma Ata im Jahr 1978 und daraufhin vor allem von der UN und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelt wurden.6, 8 Das aktuelle Schlagwort der WHO zur Einrichtung einer primären Gesundheitsversorgung ist die sogenannte „Universelle Versorgung“ (universal coverage), die sich auch im Titel des Weltgesundheitsberichts von 2013 wiederfindet6. Das Konzept der „primären Gesundheitsversorgung“ strebt an, dass wohnortnah fachlich breit aufgestellte Ärzt_innen bzw. Ärzteteams die nötigsten medizinischen Bedürfnisse der Menschen diskrminierungsfrei und niederschwellig erfüllen. Diese pragmatisch orientierten Teams von Heilberuflern („health workers“/„health professionals“ in der englischen Literatur) beobachtet man bei allen möglichen Missionen der Entwicklungszusammenarbeit der oben bereits aufgezählten Organisationen. Diese praktisch orientierten Menschenrechtsaktivisten und Heilberufler_innen fanden sich einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg als Teil der global auflebenden Menschenrechtsbewegungen in der „health for all“-Bewegung zusammen und setzten zügig die Ideal in realen Missionen rund um den gesamten Globus um.
Es ist nicht möglich für einen Staat oder eine Institution sofort alle Bedürfnisse des Menschenrechts auf Gesundheit zu erfüllen. Insofern ist eine Priorisierung nötig, deren Ziel freilich die Erfüllung der in der oben erwähnten Literatur beschriebenen detaillierten Aspekte des Menschenrechts auf Gesundheit sind. Zu dem progressiven Verwirklichen der Verpflichtungen des Staates, die aus dem Menschenrecht auf Gesundheit resultieren, finden sich nähere Informationen im o.e. Generalkommentar Nr. 143.
Anküpfend an die oben beschriebene Literatur gehören folgende Aspekte zu den primären Zielen der Erfüllung des Menschenrechts auf Gesundheit:
– Mindestens die Notfallversorgung akut lebensbedrohlicher Krankheiten (Polytraumata, Leber- und Niereversagen, Herzinfarkt, Schlaganfälle, Entbindungen etc.) ergänzend zur allgemeinmedizinischen Versorgung,
– Die menschenwürdige Versorgung chronisch Kranker ergänzend zur allgemeinmedizinischen Versorgung,
– Die psychosoziale Versorgung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen,
– Krankheitsstatistik,- organisation, -prävention, -aufklärung und -information nach modernen Maßstäben,
– Dem Schutz der individuellen Gesundheit vor gesundheitsschädlichen Effekten der Wirtschaft (Industrie, Dienstleistung und Landwirtschaft) und der Umwelt (Katastrophen, Epidemien etc.).
Keiner dieser Aspekte ist eine völlig neue Dimension der der Kernversorgung, wie sie im Generalkommentar Nr. 14 beschrieben wird, sondern führt das Genannte genauer aus. Konkrete medizinische und politische Forderungen, die sich hieraus ergeben, sollen noch mal benannt werden. Die wichtigsten, internationalen Menschenrechtstexte3 weisen in vielen Punkten (notwendige!) generelle Formulierungen und Termini auf. Es ergibt sich hieruas ganz praktische Menschenrechtsarbeit ergibt sich hieraus, die vornehmlich von Heilberfler_innen durchgeführt wird.
Menschenrechtliche Standards bei der Organisation der medizinischen Versorgung sind u.a.:
– Keine Diskriminierung erkrankter Personen9. Der oben erwähnte Generalkommentar geht spezifisch auf die von Diskriminierung gefährdeten Personengruppen ein: Personen mit Handicap, Indigene, ältere Personen, Frauen, Kinder. Allgemein erwähnt er die zu vermeidende Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer Meinung oder anderer Meinung, nationalen oder sozialen Ursprungs, Eigentum, Herkunft, körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung, Gesundheitszustand inklusive HIV/AIDS, sexuelle Orientierung, ziviler, politischer, sozialer oder anderer Status1,
– Der barrierefreie Zugang zur medizinischen Grundversorgung (räumliche Zugänglichkeit, finanzielle Zugänglichkeit, diskriminierungsfreie Zugänglichkeit, soziale Zugänglichkeit)10.
Wie auch der Generalkommentar Nr. 14 und die Weltgesundheitsorganisation deutlich betonen, liegt die Umsetzung der Kernforderungen des Menschenrechts auf Gesundheit im politischen Willen zur Organisation und Finanzierung der medizinischen Versorgung.
Die gerade aufgelisteten Punkte sollen noch mal in Kürze besprochen werden:
Notfallversorgung als absolute Mindestversorgung
Die Notfallversorgung lebensbedrohlicher Erkrankungen vieler Länder ist eine direkt organisatorische Frage, die wiederum eng an die Ressourcen gebunden ist. Sie sollte ein primärer Ort der Allokation von Ressourcen neben der sehr gut erreichbaren allgemeinärztlichen Grundversorgung sein. Die moderne Medizin hat viele Möglichkeiten mit entsprechendem rational kalkuliertem Ressourcenbedarf hervorgebracht. Notfälle sind medizinisch klar definiert und umfassen z.B. akute Knochenbrüche und Polytraumata, komplizierte Entbindungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle, komplizierte Lungenentzündungen etc.
Das oben erwähnte Konzept der „primären Gesundheitsversorgung“ skizziert bereits die Strukturen und Dienste der Gesundheitsversorgung, die zuerst umgesetzt werden sollen, wenn eine Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung aufgebaut wird. Die Betonung der Notfallversorgung erfolgt deshalb, da bei der Arbeit der Ärzt_innen in der primären Gesundheitsversorgung zunächst an die allgemeinmedizinische Versorgung gedacht wird, die jedoch die Versorgung lebensbedrohlicher Notfälle einschließen muss.
Die Versorgung chronisch Kranker
Chronisch Kranke benötigen ein menschenwürdiges Krankheitsmanagment und kontinuierliche Pflege. Auch in westlichen Ländern ist ihre Versorgung ein erst in den letzten Jahren politisch in Angriff genommenes Thema aufgrund der überalterten Gesellschaft und gestiegener Lebenserwartung. In den Gesellschaften Westeuropas, Nordamerikas, Südkoreas und Japans mussten und müssen Lösungen gefunden werden, denen Ländern wie China mit Sorge gerade entgegensehen. Die Frage der langfristigen Finanzierbarkeit wird unter anderem durch staatliche und staatlich geförderte Versicherungkonzepte beantwortet. In vielen Ländern sind chronisch schwer erkrankte Menschen kaum sichtbar und ihre Versorgung fällt fast vollständig in den familiären Aufgabenbereich. Bei mangelnder medizinischer Hilfestellung und Kenntnis der Bedürfnisse und Probleme der erkrankten Person ist eine menschenwürdige Versorgung in solchen Fällen schwierig. Familien- und durch das soziale Umfeld gestützte Versorgungsmodelle scheinen gute Ergebnisse für Angehörige und Erkrankte zu zeitigen, solange die Versorgung heilberuflich geplant und begleitet wurde. Entscheidend ist die medizinische Begleitung und Bereitstellung der notwendigen Ressourcen für die Versorgung chronisch Kranker.
Anknüpfend an den Absatz über die „Gesundheitsversorgung“ soll auch hier im Rahmen der „primären Gesundheitsversorgung“ auf die Bedürfnisse dieser besonders gefährderten Patientengruppe hingewiesen werden, die freilich schon durch eine gut konzipierte primäre Gesundheitsversorgung abgedeckt sein sollte. .
Psychosoziale Versorgung der Opfer von Menschenrechtsverletzungen
Psychosoziale Versorgungskonzepte wurden in den letzten Jahrzenten in vielen westlichen Staaten aufgebaut. Ihre medizinische Natur kommt von der Beteiligung von medizinischen Psychotherapeut_innen und Psychiater_innen in der psychosozialen Versorgung. Zu den versorgenden Institutionen zählen zum Beispiel niederschwellige Angebote wie Frauenberatungsstellen und Sorgentelefone bis hin zu Therapiezentren, Expertennetzwerken und auch praktisch arbeitende Institutionen wie Frauenhäuser und psychosoziale Tageskliniken. Infragegestellt wird die menschenrechtliche Relevanz dieses Versorgungsfelds in verschiedenen Punkten:
– Es wird damit argumentiert, dass traumatisierte oder allgemein durch Menschenrechtsverletzungen psychisch und/oder physisch beeinträchtigte Menschen oft nicht mehr gefährdet sind und nicht mehr Gefahr laufen Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu sein. Die Schutzbedürftigkeit dieser Menschen versucht man damit zu relativieren. Diese wird den Opfern nicht gerecht und ignoriert ihre schwerwiegenden körperlich-seelischen Probleme. Zur Verwirklichung der Menschenrechte gehört auch, dass die Erfahrungen und Rechte der Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden.
– Psychosoziale Versorgungszentren und beispielsweise psychosoziale Projekte zur Verhinderung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen seien keine ausreichend wichtigen Themen der Menschenrechtsarbeit. Auch hier zeigt sich zum Einen Ignoranz gegenüber den Opfern und Patient_innen. Zum Anderen wird bei der Anwendung sexualisierter Gewalt die Würde des Opfers im Intimsten brutal verletzt11. Hierfür relevant ist auch die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminerung der Frau aus dem Jahr 198112. Patient_innen psychosozialer Zentren gehören zu einem schwer zugänglichen und versorgungstechnisch oft stark vernachlässigtem Teil der Patientenschaft. Zum Erreichen der Barrierefreiheit der medizinischen Versorgung sind entsprechende Angebote notwendig.
Krankheitsstatistik,- organisation, -prävention, -aufklärung und -information nach modernen Maßstäben
Dies sind organisatorische, nicht zwangsläufig durch medizinisches und pflegerisches Personal auszuübende Aufgaben, die der Staat entwickeln und durchführen. Hier handelt sich in großen Teilen und Themen und Techniken, die in der internationalen Schule der public health entwickelt wurden und diskutiert werden. Spezifische Inhalte siehe u.a. in Fußnote 3.
Dem Schutz der individuellen Gesundheit vor gesunheitsschädlichen Effekten der Wirtschaft (Industrie, Dienstleistungs- und Landwirtschaft) und der Umwelt (Katastrophen, Epidemien etc.)
Der Generalkommentar Nr. 14 nennt diesen Punkt nur indirekt in Form einer nationalen Public Health-Strategie und explizit in Form der staatlichen Fürsorge bei Epidemien und ihrer Prävention.3 Die Aufgaben umfassen vor allem umweltmedizinische Themen und den Schutz der Bevölkerung vor natürlichen und menschengemachten Gesundheitsgefahren, wie sie durch das ECDC und die WHO internationale wahrgenommen werden.
Diskriminierungsverbot erkrankter Personen
Jede Krankheit besitzt ihre eigenen Stigmata: Wunden, Verstümmelungen, Gerüche, Infektiosität, soziale Meidung, Unzurechnungsfähigkeit, körperlich und geistig unterdurchschnittliche Leistungen etc. Politisch und verwaltungstechnisch sind Diskriminierungen vollkommen unzulässig. Das ärztliche Berufsethos umfasst diese Forderung des Respekts und Neutralität gegenüber des Patienten und muss als allgemeine Regel im Umgang mit Krankheiten und Erkrankten gelebt werden.
Barrierefreiheit der medizinischen Grundsversorgung
Für vieleMenschen ist eine medizinische Grundversorgung nicht gut erreichbar. Notfallversorgung muss niedrigschwellig per Notrufnummer für alle Menschen verfügbar sein. Ambulante, primäre Gesundheitsversorgung muss räumlich, zeitlich und finanziell barrierefrei zugänglich sein: Die Distanz darf nicht zu groß sein. Die Versorgung muss entsprechend der Dringlichkeit des gesundheitlichen Problems zeitnah erfolgen. Die Behandlung darf nicht vom Vermögen, Beziehungen oder Bereitschaft zur Bestechung des Gesundheitspersonals abhängig sein.
Ebenso wie die menschenrechtlichen Themen Folter, Todesstrafe oder Religionsfreiheit fallen die medizinischen Versorgungsfragen in den politischen Machtbereich eines Staates und seiner Organe und sind nicht kostenlos.
Der Staat ist für den Bürger da und wurde zu seinem Wohl geschaffen und wird zu seinem Wohl unterhalten. Andere Diskurse der Sicherheitspolitik kehren dieses Verhältnis in letzten Zeit in vielen Lebensbereichen um. Menschen, die in einem demokratischen System leben, können ihre Rechte jederzeit deutlich gegenüber den staatlichen Gewalten formulieren und demokratisch durchsetzen, solange in dem jeweiligen Staat eben noch ein demokratisches System besteht. Es ist notwendig stets für die Umsetzung seiner Menschenrecht, so auch für die Umsetzung des Menschenrechts auf Gesundheit zu kämpfen.
Wie viele Bereiche der Politik entspringen auch Fragen der „Öffentlichen Gesundheit“ den Menschenrechten. Themen wie der Fettanteil im Joghurt oder Zigarettenrauchen in historischen Hollywoodfilmen sind hingegehen Randthemen. Sie haben ihre Berechtigung, sind aber den Kernforderungen des Menschenrechts auf Gesundheit untergeordnet.
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[1] ECDC
2 CPME
3 Relevante internationale Rechtstexte über das Menschenrecht auf Gesundheit (alle im Internet abrufbar):
– Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEdM): Art. 25 (1);
– Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16.12.1966 („UN-Sozialpakt“) Art. 12, 1;
– Artikel 10 des ILO-Übereinkommens Nr. 102 über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit vom 28.06.1952;
– Artikel 11&12 der Europäischen Sozialcharta vom 18.10.1961;
– Artikel 152 (vormals Artikel 129) vom EG-Vertrag;
– United Nations. Economic and Social Council. Committee On Economic, Social and Cultural Rights: General Comment No. 14 (E/C.12/2000/4) about substantive issues arising in the implementation of the international covenant on economic, social and cultural rights. The right to the highest attainable standard of health;
– Charta der Grundrechte der EU vom 18.12.2000: Artikel 35,
4 http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/47623/Wartezeiten_Suizide_HIV_Gesundheitskrise_in_Griechenland.htm; http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/57715 (28.05.2014),
5 So zum Beispiel die Symposiumsschrift „Recht auf Gesundheit“ von Prof. Dr. Heinz Barta und Dr. Gerson Kern aus dem Jahre 2002 in der Reihe „Schriftenreihe im Colloquium. Band 5“ im Verlag Österreich (vormals Verlag der k. u. k. Hof- und Staatsdruckerey“ als Ergebnis eines juristischen Symposiums in Innsbruck im Jahre 2001,
6 World Health Organization: The World Health Report 2013. Research For Universal Health Coverage. Insbesondere Seite 6, Box 1.1: “From “Health for All” to universal coverage”, Geneva, 2013. (Alle Weltgesundheitsberichte sind auf Englisch auf der Seite der WHO abrufbar.),
7 WHO Model Lists of Essential Medicine: . www.who.int/medicines/publications/essentialmedicines/en (28.05.2014)
8 WHO: Declaration of Alma-Ata, 1978: www.euro.who.int/de/publications/policy-documents/declaration-of-alma-ata,-1978
9 AEdM: Art. 2: Gültigkeit der Menschenrechte für alle Menschen ungeachtet der Person; Art. 7: Diskriminierungsverbot und Gleichheit vor dem Gesetz,
10 ebenso Art. 2 und 7 der AEdM,
11 AEdM: Art. 22 Recht auf soziale Sicherheit; Art. 3 Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person; Art. 1: Gleicheit aller Menschen in Würde und Rechten; Art. 12: Schutz gegen willkürliche Eingriffe in Privatleben, Familie, Wohnung oder seiner Ehre.
12 UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women, CEDAW) von 1981.