Die Eichhoernchen

Sie hatte ihm so gut wie keine Vorwürfe gemacht. Keine Bitterkeit. Aber sie war gegangen. Dabei waren sie und seine sogenannte Liebe zu ihr zwei seiner Lieblingserfindungen.

Und er wusste nicht, wohin sie gegangen war. Er hatte auch nie versucht, es herauszufinden. Wozu auch. Er betrachtete es als ihr gutes Recht, zu gehen, wenn sie gehen wollte. Durch sein geöffnetes Fenster huschte durch die flatternden Vorhänge lachend die summende Stille eines Frühlingstages.

Der Kaffee wollte nicht recht wirken, außer durch seine beruhigende Wärme, die sich mit unwiderstehlich wohliger Schwere auf seine Augenlider senkte.

„Weißt du, das Schlimme ist nicht, was du tust oder nicht tust. Das Schlimme ist deine Gleichgültigkeit. Bevor ich mit dir zusammen war, hätte ich nie gedacht, wie sehr deine Gleichgültigkeit mich zerfressen würde von innen. Dabei war es nie die Gleichgültigkeit an sich, sondern das, was sie in mir anstellte. Die Zweifel, die wucherten, und die ich dir nicht mitteilen konnte, denn du hattest ja nichts getan, du warst ja ruhig und ein verständiger Zuhörer mit Engelsgeduld. Aber deine Ruhe und deine Gleichgültigkeit waren Zwillinge, die ich nicht auseinanderhalten konnte.“

Wachträume, die den Anspruch stellten, eine Erinnerung zu sein, waren ihm nicht sonderlich lieb, dafür aber umso vertrauter. Die plötzlich lachende summende Stille, die mit der Luft in das Zimmer schlich, hatte begonnen, ihn im spielerischen Tanz zu locken. Er beschloss, ihr zu folgen und das Warten nach draußen zu verlegen und fing wieder an, zu gehen. Aus dem Haus, die Straße hinunter, dorthin, wo das Licht sich seinen Weg durch die Baumwipfel suchte, um Muster auf den Boden zu malen. Es war bezaubernd, wie viele verschiedene Grüntöne es auf engstem Raume gab. Diese Erkenntnis hatte er zu dieser Jahreszeit täglich, egal bei welchem Wetter und diese Erkenntnis war eine der wenigen im Jahr, die sein Herz schneller klopfen ließen. Grüntöne und verspielte Lichtflecken. Staubige, durch das zartgrüne Blätterdach gegossene Sonnenstrahlen.

Es hatte ihn überrascht, dass ihm seine erfundenen Chimären aus der Hand glitten, dass sie ein derartiges Eigenleben entwickelten. Aber das würde wieder in Ordnung kommen.

Er ließ sie auf der Bühne in seinem Kopf auf und abtreten. Und wieder auf. Er wusste nicht recht, wie es dazu kam, dass Menschen sich vermissten. War die Regie ihrer mentalen Bühne kaputt? Konnten sie die Vorhänge nicht öffnen?

Er sah sie, wie sie die Wohnung verließ, die Haustür schloss. Er sah sie, wie sie kurz in den Himmel schaute, der von einigen undefinierbaren Wolken bedeckt war, deren Absichten im Verborgenen blieben, und sie entschied, den Schirm nicht zu benutzen. Er wusste, was sie dachte. Es war besser, nass zu werden, als als einzige mit einem unnötigen Regenschirm herumzulaufen. Sie lief zu einem Cafe, setzte sich aus Trotz den Wolken gegenüber draußen unter einen Sonnenschirm, der auch als Regenschirm seinen Dienst tun würde, und vertiefte sich in ein Buch.

Das Szenario begann ihn zu langweilen. Cut.
Er sah sie einen Mann abweisen, weil sie noch zu sehr an der Vergangenheit hing. Nun gut, das war unwahrscheinlich, das gab er zu. Er korrigierte sich und sah sie an der Vergangenheit hängen und trotzdem eine Beziehung beginnen, die nicht sonderlich glücklich war. Das schon eher.

Er begleitete sie eine ganze Weile auf ihren Wegen durch das Leben. Er entschied zusammen mit seinem Unterbewusstsein, was sie tat, was sie dachte, was sie fühlte. Er wusste über alle Einzelheiten ihres Lebens und über alle Facetten ihrer Person Bescheid.

Nur von der Realität hatte er keinen blassen Schimmer.

Zwei Eichhörnchen spielten über seinem Kopf Fangen; Er schaute ihnen eine Weile zu und feuerte innerlich mal dieses, mal jenes an, hingerissen von ihrer gedankenlosen Hingabe ins Spiel.

Sie hatten sich jahrelang nicht gesehen. Sie hatte sich nur noch einmal gemeldet, als ihr Kind zur Welt kam. Das war wirklich Jahre her. Viele Jahre. Irgendwo auf dieser Welt lief jetzt ein Kind – wie alt? – herum, das seine Gene in sich trug. Er wusste nicht recht, was er bei diesem Gedanken empfinden sollte und beschloss, es vorerst bei diesem Nichtwissen zu belassen.

 

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