Das Kind

Eigentlich hatte sie einen Namen, aber außer der Frau, mit der sie zusammen wohnte, wusste kaum jemand davon. So, wie sie die Frau, mit der sie zusammen wohnte, auch anders nannte, aber letztlich war sie eine Frau, und sie wohnten im selben Haus, damit hatte sich das, mehr war da nicht. “Mama” war für sie ein Name. Auch wenn es der Mama weh tat, das zu hören. Immer noch.

Die meisten riefen nach dem Kind mit irgendwelchen Tiernamen. “Eichhörnchen” hieß sie, wenn sie gerade auf Bäume kletterte, “Affe”, wenn sie Grimassen schnitt, “Hund”, wenn sie jemandem im Weg stand, oder auch “Elster”, wenn sie mal wieder etwas stahl, das aber von so geringem Wert war, dass es dem vorherigen Besitzer reichte, sie zu beschimpfen. Wenn es nicht wertlos genug war, dann wurde sie ganz anders genannt, und wenn es keine Tracht Prügel gab, dann kam die Polizei. Kinder schlagen tun viele ja nicht mehr, aber Polizei rufen, das geht immer.

Sie selbst nannte sich Windjäger, denn sie jagte den Wind. So einfach war das.

Freunde, die sie anders hätten nennen können, hatte sie keine. Wozu auch; ihre Freunde waren die Bäume und die Wiesen, der Wind und die Blätter. Nur Tiere mochte sie nicht. Die standen im Weg und nahmen ihr Essen weg.

Die anderen Kinder fanden sie komisch. Manche lachten über sie, aber dann lachte sie auch, laut, brüllend, verstörend. Dann hörten sie auf, zu lachen. Einige Mutige versuchten, sie zu ärgern, sie zu jagen oder zu schlagen. Dann warf sie Steine oder Äste nach ihnen, bis sie weinten und zu ihren Eltern rannten. Bevor diese kommen konnten, um zu schimpfen, war das Kind aber schon lange weg.

Ihre Kleidung war prinzipiell immer dreckig und zerfleddert. Blätter, Äste, manchmal sogar Insekten klebten hartnäcktig da dran fest. Ihre Haare, am morgen noch so sorgfältig gekämmt von der Mama, waren am Abend schon zerzaust und hingen ihr bestenfalls in wirren Strähnen ins Gesicht. Im schlimmsten Fall waren sie verbrannt, abgerissen oder verkrustet mit Schlamm.

Ja, die Mama schimpfte, aber das war ihr egal. Warum sollte es sie auch kümmern? Nur wenn die Mama traurig war, dann machte das auch die Windjägerin traurig. Wieso werden Menschen traurig, wenn sie glücklich sein können? Aber das verstand die Mama nie.

An diesem Tag war die Mama nicht traurig, im Gegenteil, sie wirkte glücklich. Sie hatte der Windjägerin ein besonders gutes Frühstück gegeben, gekämmt, angezogen und sie in die Schule geschickt. Die Windjägerin mochte die Schule; dort konnte sie sich erholen. Diese ganzen alten Menschen mit den ernsten Gesichern, die irgendwas unverständlich redeten, beruhigten sie. Sie konnte dabei abschalten und sich darauf vorbereiten, den Wind zu jagen.

Nach der Schule wehte ein besonders guter Wind. Er roch nach Apfel, mit einem Schuss Vogel. Sie sah eine Feder vor sich, und fing an, mit der Feder um die Wette zu laufen. Das ist besonders schwierig: kommt an der Feder zu nahe, erschrickt sie, und verändert plötzlich die Richtung. Ist man dagegen zu langsam, fällt sie auf den Boden. Die Kunst besteht darin, die Feder mit Armbewegungen zu beruhigen und vor sich herzutreiben, bis man sie irgendwann überholen kann.

Heute fühlte sich die Windjägerin großzügig, also fing sie die Feder und trug sie ein Stück, bis sie auf einem Hügel stand. Da warf sie die Feder in die Luft, wo sie von einem Windstoß davon getragen wurde. Die Jägerin schaute ihr nach, wie sie sich elegant bewegte und den Hügel hinunter schwebte. Auf einen quadratischen Stein, der ihr vorher noch nie aufgefallen war und der irgendwie künstlich aussah.

Der Wind weht gerade in die Richtung, also lief sie zu dem Stein, wurde immer schneller, während sie mit dem Wind im Rücken den Hügel herunter rannte. Kurz bevor sie beim Stein ankam, ließ der Wind nach, also wurde sie langsamer. Sie konnte jetzt sehen, dass es eine Steinplatte war, eine große. Sie hätte sich drauf legen können. An einer Seite gab es einen Hebel, der ein bisschen nach einer Tür aussahe. Ob man den wohl drücken konnte?

 

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